Im absoluten Samadhi gibt es keine Zeit. „Keine Zeit“ – das heißt: nur die gegenwärtige Zeit. Das ist nicht nur im Samadhi wahr, das man im Zazen erreicht, sondern auch immer dann, wenn Sie sich ganz auf etwas Ernsthaftes einlassen. Wenn Sie zum Beispiel eine wichtige Untersuchung anstellen, kann es sein, dass Ihnen die Zeit beträchtlich verkürzt erscheint. Eine Stunde verfliegt wie fünf Minuten. Wenn man Sie darauf aufmerksam macht, dass die Zeit abgelaufen ist, werfen Sie einen Blick auf die Uhr im Raum und vermuten fast, jemand müsse die Zeiger verstellt haben.

In Wirklichkeit waren Sie in einer Art Samadhi in Ihrer Arbeit aufgegangen, dass Ihre psychologische Zeit ganz kurz geworden ist. Ihre Aufmerksamkeit war ganz auf Ihre Tätigkeit gerichtet, und für die Reflexionstätigkeit des Bewusstseins blieb nichts übrig. Sie waren ganz und gar hingegeben, und darum waren Sie sich Ihrer selbst, Ihrer Gedanken oder Ihres Verhaltens gar nicht bewusst. Sie waren zeitlos. Oder, mit anderen Worten, Sie waren in reiner Gegenwart, und in dieser Gegenwart kommt und geht vieles, spielen sich Dinge ab und hören auf.

In einem Schlachtengetümmel ist es das gleiche: Sie vergessen sich selbst, Sie vergessen die Zeit. Wenn eine Katastrophe eintritt – ein Erdbeben oder ein Brand -, und Sie retten Menschen oder Gegenstände aus einem Gebäude, sind Sie zeitlos. Da läuft nur noch die Gegenwart weiter – Gegenwart, Gegenwart, nichts als Gegenwart. Diese Gegenwart wird erst unterbrochen, wenn ein Reflexionsakt Ihres Bewusstseins einsetzt.

Dann denken Sie über Ihr Denken nach und stellen den Unterschied zwischen dem gerade vergangenen Augenblick und dem gegenwärtigen Augenblick fest. Sie merken, dass die Ereignisse eine Reihenfolge haben, Sie erinnern sich an Vergangenes, Sie mutmaßen Künftiges. Nach einer Katastrophe schreiten Sie noch einmal das Gelände ab und staunen, was alles blitzschnell getan worden ist, Dinge, die Ihnen jetzt bemerkenswert vorkommen, ja die fast Menschenmögliches übersteigen.

Während des Ereignisses selbst wussten Sie in jedem Augenblick, was Sie zu tun hatten, aber Sie dachten über ihre Gedanken und Taten nicht nach; diese blieben nicht in Ihrem Geist haften, sondern Sie vergaßen sie auf der Stelle wieder. Gelegentlich, in weniger angespannten Momenten, haben Sie vielleicht kurz über Ihre Gedanken oder über die Situation nachgedacht, aber solches Nachdenken war selten, und die psychologische Zeit war drastisch verkürzt.

Aus diesen Beispielen können wir den Schluss ziehen, dass die psychologische Zeit mit der Häufigkeit von Reflexionsakten des Bewusstseins steht und fällt. […] Im absoluten Samadhi verschwindet die Zeit vollständig; dasselbe gilt für den Raum. Auch die Kausalverknüpfung verschwindet. Was bleibt, ist nur noch eine Reihe von Ereignissen. Dieser Zustand von Nicht-Zeit, Nicht-Raum und Nicht-Verursachung wird im absoluten Samadhi schlicht und einfach ohne jede Reflexion als eine unmittelbare Erfahrung wahrgenommen.

Unser gewöhnliches Bewusstsein ist so aufgewachsen und erzogen, dass es in einer Welt lebt und sich verhält, die von den Grenzen der Zeit, des Raumes und der Kausalverknüpfungen eingezäunt ist. Weil alles nach Zeit, Raum und Ursachenzusammenhang eingeteilt wird, entsteht jene Welt der Gegensätze und Bewertungen, in der wir uns gewöhnlich vorfinden. Das gewöhnliche Bewusstsein träumt nie von der Möglichkeit, es könne eine Welt mit anderen Dimensionen geben, sondern im Gegenteil: diese gewöhnliche Geisteshaltung schafft das Trugbild einer verrückt auf den Kopf gestellten Welt. […]

Solange man im Samadhi ist, zieht Augenblick um Augenblick vorüber, und jeder ist gegenwärtig, und es ist ein steter Strom von Gegenwärtigem. Dass wir da seien, kann man von uns eigentlich nur in der Gegenwart sagen. Es liegt in der Natur des Samadhi, dass wir um diese Tatsache nicht wissen, aber wir erkennen sie wieder in dem Augenblick, in dem wir aus dieser Verfassung heraustreten. Aus dieser Erfahrung lernen wir, dass das Leben im gegenwärtigen Augenblick absolut unabhängig ist und unser wahres Dasein darstellt.

Wenn wir andererseits in uns hineinschauen, stellen wir fest, dass jeder auftretende Gedanke alle anderen nachfolgenden Gedanken beeinträchtigt. Selbst der kürzeste Gedanke, der lediglich den kleinsten Bruchteil einer Sekunde dauert, mag er nun erkannt oder nicht wahrgenommen werden, kann nicht vorübergehen, ohne seine Auswirkung auf die folgenden Gedanken zu haben. […]

Jede Handlung hinterlässt ihre Auswirkung auf alle folgenden Handlungen. Dieser gegenwärtige Augenblick lebt vom Erbe aller vergangenen Ereignisse, die ohne eine einzige Ausnahme von zahllosen Zyklen des Daseins her bis zu uns hier und heute weitergereicht worden sind. In diesem Sinn hängt der gegenwärtige Augenblick von der gesamten Vergangenheit ab. Er blickt in die Zukunft, und dieses Blicken in die Zukunft hat zur Folge, dass er auch von der Zukunft abhängig ist.

Ein Zen-Spruch lautet: „Nicht Mensch, nein: Verursachung.“ Er will besagen, dass alle Phänomene das Ergebnis von Ursache und Wirkung sind und dass es keine Wesenheit gibt, die man im strengen Sinn ein Selbst nennen kann. Alles ist das Ergebnis von Ursachen; alles ist seinerseits Ursache. Wir alle stehen unter diesem Gesetz, und infolge dieses Gesetzes sind wir ständiger Wandlung unterworfen.

Es gibt kein konstantes Selbst. Vielleicht empfinden Sie den Gedanken als Schwindel erregend, dass von Ihrer Kindheit von vor zwanzig oder fünfzig Jahren nichts übrig bleibt. Eine ziemlich andere Person ist in Ihre Schuhe geschlüpft, und auch nicht in Ihre unschuldigen Babyschuhe, die aus allen Nähten platzen würden, wollten Sie sie heute noch einmal anziehen. Vom Kind ist nur noch eines da: Ihr Dasein selbst.

Die Linie, die von Ihrer Kindheit bis in die Gegenwart verläuft, kann gegen keine andere Linie ausgetauscht werden. Glied um Glied einer langen Kette von Ursachen und Wirkungen sind bis zur Gegenwart aneinandergereiht worden, und es gibt nichts, was man als Person bezeichnen könnte. Es gibt nichts, an das man sich halten, nichts, an das man sich klammern könnte.

Wenn Sie die Tatsache wirklich erfassen, dass das Da-Seiende nur im gegenwärtigen Augenblick zu finden ist, fühlen Sie sich in ihrem gegenwärtigen Dasein sicher und wohl und trauern nicht der Person nach, die gestern und vorgestern Ihre Kleider angezogen und sich in ihnen bewegt hat. Augenblick um Augenblick folgt ein Daseins-Moment auf den nächsten, und dabei wandelt sich das Dasein unablässig. […]

Jeder Augenblick und jeder Gedanke sind der Einstieg in den nächsten Augenblick und den nächsten Gedanken. Jeden Augenblick sehen wir unser Dasein wieder anders. Mit einem Wort: Augenblick für Augenblick ist unserer freien Verfügung und unserer eigenen Verantwortung anheimgestellt, und ein Gedanke um den andern jedes Augenblicks bringt uns etwas Neues, das uns entweder zum Guten oder zum Schlechten gereicht. […]

Der springende Punkt, auf den es ankommt, ist, dass wir ganz klar verstehen müssen, dass das Ego keine Dauer hat. Das Dasein ist ein beständiger Wandel. Wenn es aufgetaucht ist, ist es aufgetaucht; wenn es vergangen ist, ist es vergangen. Wenn es sich mit einer Täuschung herumquält, ist es ein getäuschtes Ego, wenn es voller Wut ist, ist es ein wuterfülltes Ego; wenn es aufbegehrt, ist es ein aufbegehrendes Ego. Ist es geisteskrank oder neurotisch, so ist es ein verwirrtes oder geplagtes Ego.

Kurz gesagt: alle Dinge sind in Bewegung, sind fließend. Auch das Ego wandelt sich ständig. Deshalb ist es leer. Wenn es auftaucht, ist es da; wenn es verschwindet, ist es verschwunden. Weil es sich ständig wandelt, hat es keine endgültige Phase. Da es an sich leer ist, können Sie sagen, es gibt nichts Derartiges wie ein Ego. Aber wenn es in diesem Augenblick lebhaft da ist, müssen Sie sagen: „Da ist es.“

Quelle: Katsuki Sekida „Zen-Training“, S. 141-147