So sieht die Wirklichkeit der meisten Menschen aus: Sobald etwas wahrgenommen wird, wird es vom Phantomselbst, dem Ego, benannt, interpretiert, mit etwas anderem verglichen, geschätzt, verabscheut und als gut oder schlecht bewertet. Die Leute sind in Gedankenformen, im Objektbewusstsein gefangen.
Du kannst erst spirituell erwachen, wenn das zwanghafte, unbewusste Benennen abklingt oder du dir seiner zumindest bewusst wirst, sodass du es beobachten kannst, während es geschieht. Es ist dieses ständige Benennen, das dem Ego als dem unbeobachteten Denken seinen Platz sichert. Sobald es jedoch nachlässt oder du dir wenigstens seiner bewusst wirst, entsteht innerer Raum, und dann bist du nicht länger Sklave deines Denkens.
Nimm einmal einen Gegenstand zur Hand – zum Beispiel einen Stift, einen Stuhl, eine Tasse, eine Pflanze – und erkunde ihn mit deinen Augen, das heißt, schau ihn dir voller Interesse, ja mit einer gewissen Neugier an. […] Sei entspannt, aber wachsam, ohne dich anzustrengen, und richte deine gesammelte Aufmerksamkeit auf den Gegenstand, auf jedes Detail. Falls Gedanken in dir aufsteigen, lass dich nicht auf sie ein. Du bist nicht an den Gedanken interessiert, sondern an der reinen Wahrnehmung.
Kannst du etwas wahrnehmen, ohne zu denken? Kannst du etwas sehen, ohne dass die Stimme in deinem Kopf es kommentiert, Schlüsse zieht, vergleicht oder etwas zu erklären versucht?
Lass deinen Blick nach einigen Minuten durch das Zimmer oder den Ort schweifen, in dem du dich gerade befindest, und lass deine wache Aufmerksamkeit jeden Gegenstand erhellen, auf dem sie ruht. Horch nun auf einzelne Geräusche, die vielleicht da sind. Lausche auf sie genau so, wie du die Dinge in deiner Umgebung betrachtet hast.
Manche Geräusche sind wahrscheinlich natürlich – Wasser, Wind, Vögel -, während andere künstlich erzeugt werden. Einige sind angenehm, andere unangenehm. Unterscheide aber nicht zwischen gut und schlecht. Lass jedes Geräusch so sein, wie es ist, ohne es zu interpretieren. Auch hierbei ist entspannte, aber wache Aufmerksamkeit entscheidend.
Wenn du in dieser Art siehst und hörst, wirst du dir unter Umständen eines zarten, zuerst vielleicht kaum wahrnehmbaren Gefühls der Ruhe bewusst. Manche Leute empfinden es als Stille im Hintergrund. Andere nennen es Frieden. Sobald das Bewusstsein nicht mehr total vom Denken eingenommen ist, bleibt ein Teil von ihm in seinem formlosen, unkonditionierten ursprünglichen Zustand erhalten. Das ist der innere Raum. […]
Sich seiner Atmung bewusst zu sein zieht Aufmerksamkeit vom Denken ab und schafft Raum. Es ist eine Möglichkeit, Bewusstheit zu erzeugen. Das Bewusstsein in seiner Fülle ist zwar im Unmanifestierten schon da, aber wir sind hier, um auch unsere Dimension hier mit Bewusstheit zu erfüllen.
Werde dir deiner Atmung bewusst. Achte auf die Empfindung des Atmens. Spüre, wie die Luft in deinen Körper einströmt und wieder ausströmt. Achte darauf, wie sich Brust und Bauch beim Einatmen jedesmal leicht ausdehnen und beim Ausatmen wieder leicht zusammenziehen. Ein bewusster Atemzug genügt, um dort Raum zu schaffen, wo vorher die Gedanken einander in ununterbrochener Folge jagten. Viele Male am Tag einen bewussten Atemzug zu machen (zwei oder drei wären noch besser) ist ein ausgezeichnetes Mittel, um Raum ins Leben zu bringen. […]
Die alles entscheidende Frage ist: Kann ich in diesem Augenblick die Präsenz eines inneren Raums spüren, genauer gesagt: Kann ich meine eigene Präsenz spüren oder noch genauer: Kann ich die Präsenz spüren, die ich bin?
Wir können diese Wahrheit aber auch erforschen, indem wir einem anderen Wegweiser folgen. Stelle dir einmal die Frage: »Bin ich mir nicht nur dessen bewusst, was in diesem Augenblick geschieht, sondern auch des Jetzt als des lebendigen, zeitlosen inneren Raums, in dem alles geschieht?« […]
Eine weitere einfache, aber hoch wirksame Methode, den Raum in diesem Leben zu entdecken, ist eng mit dem Atem verbunden. Während du aufmerksam dem sanften Luftstrom folgst, der in deinen Körper ein- und wieder ausströmt, und fühlst, wie sich Brust und Bauch entsprechend heben und senken, wirst du dir auch deines inneren Körpers bewusst. Dann kannst du deine Aufmerksamkeit vom Atem auf die Lebendigkeit richten, die du innerlich spürst und die deinen ganzen Körper durchdringt. […]
Schaffe so oft wie möglich in deinem Lebensalltag Raum, indem du dir den inneren Körper bewusst machst. Spüre immer, wenn du irgendwo wartest, jemandem zuhörst oder innehältst, um zum Himmel emporzuschauen oder einen Baum, eine Blume, deinen Partner oder ein Kind zu betrachten, zugleich die Lebendigkeit in deinem Innern. Das heißt, ein Teil deiner Aufmerksamkeit bzw. deines Bewusstseins bleibt formlos, während der übrige Teil für die äußere Welt der Form zur Verfügung steht. Wenn du deinen Körper auf diese Weise »bewohnst«, dient dir das als Anker, um im Jetzt präsent zu bleiben. Dann bewahrt es dich davor, dich im Denken, in Empfindungen oder äußeren Umständen zu verlieren. […]
Der innere Raum entsteht auch dann, wenn du dem Bedürfnis widerstehst, dein formales Selbst (deine Person) zu betonen. Dieses Bedürfnis kommt vom Ego. Es ist kein echtes Bedürfnis. Immer wenn du eines dieser Verhaltensmuster aufgibst, entsteht innerer Raum. Du wirst wahrhaftiger du selbst. Für das Ego sieht es so aus, als würdest du dich verlieren, dabei ist das Gegenteil richtig. Jesus sagte schon, dass man sich selbst verlieren muss, um sich zu finden. Immer wenn du eines dieser Muster fallen lässt, wird das, was dich auf der Ebene der Form ausmacht, schwächer, und dann kommt das deutlicher zum Vorschein, was du jenseits der Form bist. Du wirst weniger und doch mehr.
Hier einige Beispiele, wie Menschen sich unbewusst in ihrem formalen Selbst zu bestärken versuchen. Wenn du sehr wachsam bist, kannst du vielleicht einige dieser unbewussten Verhaltensmuster in dir selbst aufspüren: dass du Anerkennung verlangst für etwas, das du getan hast, und verstimmt oder wütend bist, wenn sie dir versagt wird; dass du versuchst, Aufmerksamkeit zu erregen, indem du ständig über deine Probleme sprichst, deine Krankengeschichte zum Besten gibst oder jemandem eine Szene machst; dass du ungefragt deine Meinung äußerst, ohne damit etwas an der Situation zu verändern; dass du in erster Linie darum besorgt bist, wie andere Personen dich sehen, sie also zur Selbstbespiegelung oder Selbstbestätigung benutzt; dass du mit deinem Besitz, Wissen, guten Aussehen, Status, deiner körperlichen Kraft usw. Eindruck auf andere machen willst; dass du durch eine wütende Reaktion auf etwas oder jemanden dein Ego kurzfristig aufblähst; dass du Dinge persönlich nimmst und beleidigt bist; dass du Recht haben und andere ins Unrecht setzen willst, indem du dich im Stillen oder laut beklagst; dass du auffallen oder bedeutend erscheinen willst.
Sobald du ein solches Muster in dir aufgespürt hast, solltest du ein Experiment durchführen. Finde heraus, wie es sich anfühlt und was geschieht, wenn du dieses Muster fallen lässt. Lass es einfach fallen und sieh, was geschieht. Dich auf der Ebene der Form zurückzunehmen ist eine weitere Methode, Bewusstheit zu erlangen. Entdecke die gewaltige Kraft, die durch dich in die Welt strömt, wenn du dein formales Selbst nicht mehr betonst. […]
Du bist nie tiefer und essenzieller du selbst als dann, wenn du still bist. In der Stille bist du, wie du warst, bevor du für eine gewisse Zeit diese physische und mentale Form angenommen hast, die »Person« genannt wird. Dann bist du auch so, wie du sein wirst, wenn sich die Form wieder auflöst. In deiner Stille bist du das, was du jenseits deiner zeitlichen Existenz bist: reines Bewusstsein – unkonditioniert, formlos und ewig.
Quelle: Eckhart Tolle „Eine neue Erde“, S. 253-266
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