Ingo Zacharias

Freiheit des Jetzt

Vom Gedanken-Ich zur Präsenz-Identität

Yolande Duran-Serrano: Ich bin total verliebt in diese Stille (Teil 2)

Die Stille lässt nicht zu, dass du dich jeden Augenblick neu erschaffst, sie erlaubt dir nicht, dich einzumischen, zu denken und diesen ganzen mentalen Filter in Gang zu halten. Dadurch erscheint dir die Realität so viel lebendiger, so viel realer. […]

Es ist etwas, das vor allem anderen da ist und dir erlaubt, die Dinge wahrzunehmen … ohne da zu sein. Es ist etwas, was dich in der Rückschau erkennen lässt, das alles, was du siehst, alles, was dir erscheint, nur eben jetzt erscheint. Im nächsten Moment, pfft, fini, ist es nicht mehr da. Letztlich gibt es nichts als jetzt. Der Augenblick davor, der Augenblick danach, das sind einfach zwei Abstraktionen.

Dieses tiefe Gefühl, diese unsichtbare Sache, die dich in diesem Empfinden hält, ist eigentlich das, was sieht. Es ist eine Klarheit, deutlich und stark, die dir nicht erlaubt, dich weiter von dem blenden zu lassen, was deine körperlichen Augen sehen. Es ist gleichzeitig: Du siehst mit deinen Augen wie zuvor, du siehst die Dinge erscheinen wie immer, und zugleich nimmst du die Stille wahr, diese unaufhörliche Präsenz, die dir nicht gestattet, im Kopf, in der Vergangenheit, in der Zukunft zu sein. Diese Gleichzeitigkeit lässt dich im Augenblick lebendig sein, sie macht die Dichte des Augenblicks aus, und an ihr liegt es, dass nichts anderes vorhanden ist als der Augenblick. Es bleibt einfach kein Platz für anderes. […]

Zugleich ist die Stille, diese ständige Präsenz, von solcher Dichte, dass du in ein Gefühl von ununterbrochener Lebendigkeit kommst. Lebendig wie noch nie. Und selbst in ganz unbehaglichen Augenblicken, wenn du krank oder müde oder sonst etwas bist, ist diese Empfindung, diese Präsenz, vorhanden. Also, du fühlst, dass du wirklich lebst. […]

Alles, was Moment für Moment erscheint, alle Inhalte erscheinen in „dieser Sache“. Ein tiefes Ahnen, dass du da bist, ohne da zu sein. Etwas sieht weiterhin, funktioniert weiterhin, aber du bist einfach nicht mehr fähig, auf die alte Psyche hereinzufallen. Das Wahrgenommene hat keine Macht mehr. Es ist in den Hintergrund gerückt. Selbst wenn sich an Yolandes Art, mit den Dingen umzugehen, äußerlich nichts geändert hat, innen steht „diese Sache“ im Vordergrund, jeden Augenblick.

Das verringert zwangsläufig die Wichtigkeit des Gesehenen. Die gesamte Aufmerksamkeit ruht dort auf der Stille, auf dieser Präsenz, ob du willst oder nicht. Tatsächlich ist nichts da als das, und zugleich erscheint im Hintergrund alles, was sich jeden Moment zeigt.

Es ist faszinierend. Ich bin total verliebt in „diese Sache“. Total verliebt in den gegenwärtigen Augenblick – vielmehr in das, was ihm vorausgeht, „diese Sache“, die dir erlaubt, ganz in dieser wohligen Stille zu leben. Dieses sehende Sehen, das dir die Möglichkeit gibt, zu sehen, ohne da zu sein. Darin verliebt man sich Hals über Kopf, es geht gar nicht anders.

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Dieser Zustand, „diese Sache“, hindert dich an gar nichts. Im Gegenteil, er ist es, der alles ermöglicht. Es ist der Raum, der allen Dingen, Gedanken und Ereignissen vorausgeht. Der Raum, in dem alles erscheint. Man kann ihn nicht denken, er ist undenkbar. Man kann ihn nicht erfassen – er ist es, der alles erfasst, alles umfasst.

„Diese Sache“ kann man nur erleben, und das Leben wird dann sehr einfach. Du hast nichts mehr zu tun, alles tut sich von selbst. Diese Spontaneität, die dich packt und in der Stille hält, löst alle Probleme schon im Ansatz – einfach weil sie nur im Hintergrund erscheinen. Man sieht die Dinge sich abspielen, man sieht sehr klar, dass es alles Traum ist, alles Illusion, nicht vorhanden, obgleich es erscheint.

Yolande Duran-Serrano

Du weißt nicht, was du bist. Du kannst nicht erklären, was du bist, aber du bist nichts mehr von dem, was du zu sein geglaubt hast. Und es ist wunderbar! Problem gelöst! Nichts weiter zu tun, als alles, was sich zeigt und zum Hintergrund gehört, erscheinen und wieder verschwinden zu lassen – einschließlich Yolande.

Diese Art zu leben erzeugt eine gesteigerte Sensibilität. Und diese Intensität lässt keinen Raum für alles Übrige. Du spürst die Lebendigkeit des Körpers in all seinen Teilen, du langweilst dich nie. Du empfindest immer etwas, anstatt es zu denken. Die Intensität kann natürlich wechseln. […]

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Diese sehr aktive Arbeit hier in einem Lokal, das wirklich brummt, macht mir klar, dass sich der ganze Wirbel nur da draußen abspielt. Innen bleibt alles ganz still. Mir geht auch nie die Energie aus. Wenn alles von dieser anderen Warte aus gesehen wird – nicht aus Yolandes Blickwinkel, sondern von „dieser Sache“ her –, breitet sich eine große Stille aus, auch eine große Präsenz, die nichts erschüttert. Daher auch eine hohe Leistungsfähigkeit.

Du identifizierst dich mit dieser unsichtbaren Sache. Sie kam, sie wurde so übermächtig – du kannst dich einfach nicht mehr mit deinen Gedanken identifizieren, du nimmst anders wahr. Du nimmst mit ihr wahr, mit „dieser Sache“. Und wenn für einen Augenblick doch wieder die alte reflexhafte Identifikation mit deinen Gedanken da ist, wird sie gleich wieder weggefegt.

Ich kann jederzeit sehen, wie etwas in mir die Gedanken löscht, die Identifikation mit dem Denken. Ich habe da nichts zu schaffen; es tut sich selbst, und ich nehme die Bewegung nur wahr. Inzwischen kommt es mir so vor, als bliebe dem Denken keine Zeit, sich auch nur zu zeigen – es wird schon im Entstehen ausradiert. […]

Ich habe den Eindruck, dass diese Müdigkeit und Energielosigkeit, die ich früher kannte, durch die Identifikation mit dem ganzen Getümmel bedingt ist. Man glaubt seinen Gedanken, man ergreift Partei, stimmt zu oder nicht, man bekommt es mit der Angst, man reagiert. Man will, man will nicht, man ahnt Böses, man wägt ab. Man ist wie ein Schauspieler mitten in einem Bühnengeschehen.

Hier bist du Zuschauer. Du verfolgst, wie sich das abspielt: „da draußen“ die Leute und der Gang der Dinge, „hier drinnen“ die Gedanken und Gefühle, die genauso kommen und gehen. Es gibt kein Ich mehr, das sagen könnte, „Ich bin dieser Gedanke“ oder „Ich bin dieses Gefühl“. Es geht um nichts mehr, es steht nichts auf dem Spiel. Folglich entstehen keine Energieverluste mehr.

Und dann ist da dieser Geschmack der Stille, eine Süße, die bleibt. Und keine Stimme mehr, die dich beurteilt und verdammt, die dich klein macht und dir den letzten Nerv raubt. Und wenn doch hier und da ein Gedanke auftaucht, ist es meist ein wohltuender Gedanke – er macht dich leicht. […]

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Für mich liegt die große Veränderung darin, dass das Subjekt im Objekt aufgeht und das Sehen allumfassend wird. Aufgrund dieser Erscheinung, „dieser Sache“ im Vordergrund, schmilzt die Erinnerung, die Person, in den Hintergrund, in die Gesamtheit des gegenwärtigen Augenblicks ein. Es gibt „diese Sache“ – und alles Übrige.

Es gibt keine Trennung mehr. Es ist eine Nicht-Beziehung. Da ist „diese Sache“, und dann sind da mein Körper, meine Gefühle oder meine Gedanken, und sie sind mit allem Übrigen verschmolzen, mit dem Vogelzwitschern, mit dem Wind auf der Haut. Mein Körper, mein Empfinden sind besonders nah, aber doch mit allem anderen verschmolzen – und alles zusammen im Hintergrund.

Ich nehme andere so wahr wie mich selbst, nämlich im Hintergrund (darauf komme ich immer wieder zurück). Sie sind da, ohne da zu sein. Sie sind in den Hintergrund gerückt, wie ich, wie mein Körper, wie alles, was ich je zu sein geglaubt habe.

Es läuft kein Kommentar ab. Da ist das, was sich abspielt, fertig. Diese konstante Präsenz verhindert, dass du in die Falle der Komplizenschaft mit deinem eigenen Denken oder sogar mit den Gedanken anderer tappst. Was ich an ihnen wahrnehme, hat nicht den geringsten Einfluss auf „diese Sache“, die im Vordergrund steht, es ändert keinen Deut an der Stille. Und was dann jeweils getan wird, gesagt wird, das wird eben getan und gesagt, ist aber nicht Ergebnis eines Erkennens, eines Verstehens.

Du bist da, du fühlst, du lässt dich ein auf das, was sich gerade tut, und irgendwann sieht es so aus, als würdest du handeln, sprechen, auch wenn du dich in Wirklichkeit nicht einmischt. Du reagierst nicht, du hast keine Meinung und nichts zu sagen. Du lässt dich nicht auf deine persönliche Geschichte ein, deine angeblichen Leiden – wie also könntest du auf die Geschichten anderer wirklich einsteigen? […]

Du siehst die Stille, die Schönheit dieser Stille im Innern, bei den anderen. Eine Art inneres Lächeln. Du nimmst den anderen aus diesem Lächeln heraus an, das ist alles. Äußerlich mag es dann zu einer Geste kommen, vielleicht fällt ein Wort, aber es ist von Stille durchdrungen und durch die Stille wirkt es.

Die Stille weiß. Und die Stille ist es auch, die tut. Sie war immer da, auch als ich sie nicht wahrgenommen habe. Sie ist vor allem da, was sich je in irgendeinem Augenblick zeigen kann. Sie lässt mich erleben, was ist.

Ich vertraue vollkommen auf diese Stille im Unsichtbaren.

Quelle: Yolande Duran-Serrano „Die Frau, die an einem ganz normalen Sommertag plötzlich keine Gedanken mehr im Kopf hatte: Erfahrung einer Erleuchtung, Seite 14-37 (Auszüge)

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  1. Ingrid

    Ich finde die Beschreibungen von Yolande so wunderbar, dass ich beim Lesen wieder einen Hauch des EINEN spüre … Vielen Dank für die Veröffentlichung!

  2. einfach d a n k b a r
    Johanna

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