Das war im August 2003. Der Tag hatte wie irgendein Sommertag begonnen, mein Sohn war unterwegs, und ich hatte mich allein mit diesem und jenem beschäftigt. Dann fiel mir plötzlich auf…
Dir fiel auf…?
Es war etwas wie Stille in meinem Kopf. Ja, auffallend still. Wo waren meine Gedanken hin? Es war ein Art Raum zwischen meinen Gedanken, wie Zwischenraum, und die Gedanken selbst wirkten so, als stünden sie im Hintergrund. Als gehörten sie gar nicht mehr zu mir oder hätten zumindest keinen Einfluss mehr auf mich. Da war eine Leichtigkeit, etwas Wohliges. Ich fühlte mich im Einklang mit mir, verbunden mit mir wie nie zuvor. Mit etwas verbunden, das ich nicht erklären konnte und für das ich keine Worte hatte – diese Stille … Ich fragte mich, was da los war. Und ich horchte wirklich auf.
Auf was?
Es fühlte sich an, als funktionierte mein Innenleben anders als sonst. Plötzlich, ja blitzartig war etwas über mich gekommen. Ich hatte es nicht kommen sehen, es hatte mich unverhofft gepackt. „Diese Sache“, die Worte nicht erfassen können, hatte alles an sich gerissen.
Du hast nichts kommen sehen?
Nein, gar nichts. Nur fiel mir jetzt auf, dass alles anders war. Zuerst war es die Stille, die mich geradezu ansprang. An den folgenden Tagen ging mir dann auf, dass ich nichts mehr so erlebte wie früher. Die vielen Nebensächlichkeiten, über die ich mich alle Tage aufregen konnte – eine zuknallende Tür, die Schlüssel, die ausgerechnet dann, wenn du los möchtest, nicht zu finden sind, diese oder jene Sorge, all die Kleinigkeiten, die mich ständig bedrängten, ohne dass ich es auch nur bemerkte –, das alles berührte mich nicht einmal mehr.
Wenn ich zum Beispiel bemerkte, dass die Tür nicht richtig zu war oder ich die Schlüssel nicht in der Tasche hatte, dann ging ich einfach und machte die Tür zu oder suchte die Schlüssel, aber völlig ohne inneren oder gesprochenen Kommentar. Alles war einfach so, wie es eben war. Nur meine Wahrnehmung war anders, meine Reaktion.
Eigentlich hast du gar nicht mehr reagiert, oder?
So ist es, ich habe nicht mehr reagiert. Weil da diese Stille war, diese Seelenruhe, die mich völlig überflutete, aber auch in Frieden bleiben ließ, was auch gerade los sein mochte. […]
∞ ∞ ∞
Und dann ist ziemlich bald der Unfall passiert. Das war zwei Monate später, Ende Oktober. Ich war beruflich in Nordfrankreich unterwegs. Handy stumm: kein Netz. Dann wieder Netz und plötzlich haufenweise SMS. „Oha“, dachte ich, „da muss irgendetwas Wichtiges los sein.“ Ich wählte eine der Nummern, die meiner besten Freundin. Stockend sagte sie: „Dein Sohn … Unterwegs … Ein Unfall … Er ist tot …“
Ich habe das wohl nicht sofort geglaubt. „Unfall“ verstand ich natürlich, aber das Weitere? „Nein, das kann nicht sein, da muss sie sich irren.“ Ich fuhr und fuhr, als Treffpunkt war das Haus meiner Schwester ausgemacht, ich fuhr einfach und dachte nicht. Einmal regte sich ein einziger Gedanke: „Wenn das stimmt, ist mein Leben kaputt.“ Aber er hielt nicht an. Er ging wie alles in dieser großen gelassenen Ruhe auf, in der ich seit Wochen lebte.
Bei meiner Schwester warteten alle schon auf mich. Die ganze Familie, die Freunde, alle. Da mussste es wohl doch wahr sein. Sie umringten mich, sie erzählten. Ich fühlte ein Lösen und Lassen, ich überließ mich.
Das heißt?
Ich ließ los. Es war, wie es war. Keine Tränen, kein Zusammenbruch. Ich ging nach oben in mein Zimmer, ganz ruhig. Freunde kamen, Familienmitglieder kamen, besorgt, sie wollten sehen, was ich machte. Sie versuchten zu reden, versuchten zu verstehen, was das alles mit mir machte. Aber eigentlich war ich ganz ruhig. Stunden vergingen, und es blieb so, ich sah die Unruhe der anderen, aber was mich anging … was soll ich sagen? Es gab keine Aufregung in mir, kein Aufbegehren. Keine Ausbrüche, keinen gequälten Aufschrei: „Nein, es kann nicht sein! Es muss anders sein!“
Ich kann mich jetzt kaum noch erinnern, was im Einzelnen passiert ist, aber ich empfand den Schmerz nicht, den alle bei mir vermuteten. Ich verstand, dass Schmerz nicht von einer Situation hervorgebracht wird. Jedenfalls nicht in meinem Fall; nicht, wenn Stille herrscht. Umstände können mir keine Schmerzen bereiten, weil Schmerz und Stille nicht zusammen sein können.
Ich habe erst einmal gar nichts gesagt, zu niemandem. Ich konnte auch nichts vorspielen, also blieb ich, wie ich war, ruhig. Natürlich habe ich keine Freudensprünge gemacht, aber es gab eben auch keinen Zusammenbruch. Ich war wie in einem neutralen Raum. Meine Freunde gingen davon aus, dass ich am Boden zerstört war, und sagten sich: „Sie hat es noch gar nicht ganz realisiert.“ Aber das war es nicht. Ich hatte alles vollständig verstanden, aber in meinem Kopf herrschte immer noch diese Stille, und in der blieb auch ich ruhig.
Die nächsten Wochen mit ihrer Aufregung und gedrückten Stimmung zogen an mir vorbei. Es kam die Beerdigung mit all ihren Beileidsbekundungen, und da war jetzt diese Leerstelle, aber ich erlebte all das von dieser gelassenen Ruhe aus, die mich nie verließ. Es lag auf der Hand, ich konnte es nicht mehr übersehen: Etwas tief in mir erlaubte mir, bei all dem in Frieden zu sein. Es war unglaublich und doch war es so.
Du wusstest Bescheid, aber das konnte dich nicht aus dieser friedlichen Stille holen? Oder gab es doch Augenblicke der Verzweiflung oder ein Hin und Her zwischen diesen Zuständen?
Es gab damals Augenblicke der Traurigkeit, einer Traurigkeit, die ich, wie soll ich sagen … betrachtete. Ich sah sie kommen, ich sah sie gehen.
Als wäre Traurigkeit ein Besuch und nicht „Ich bin traurig“?
Sehr richtig. Ich spürte, wie das Gefühl hochkam. Dann war es da und wurde so empfunden, aber es ließ sich nicht halten. Es zog weiter.
Dann hatte diese Neutralität nichts von Gleichgültigkeit?
Nein, gar nicht! Von außen hätte man den Eindruck haben können, ich sei wie betäubt und würde gar nichts mehr fühlen. Aber innen war es so, dass ich alles sehr intensiv erlebte. Ich war kein bisschen tot. Es gab Augenblicke der Traurigkeit, Augenblicke der Niedergeschlagenheit, aber sie flossen durch mich hindurch und dann weiter. Immer war diese Stille da, dieser Raum des Unbekannten.
Und mit der Zeit konnte ich mich immer mehr „dieser Sache“ überlassen, die da in mir wach geworden war, die alles in ihren Bann gezogen hatte. Ich habe mich total in sie verliebt. Alles andere rückte in den Hintergrund.
∞ ∞ ∞
Kannst du „diese“ Sache, die dich damals im Sommer 2003 gepackt und seitdem nicht wieder verlassen hat, in Worte fassen? Du hast von Stille, von Kraft, von diesem Bejahenden gesprochen.
Das ist wirklich nicht einfach. Sie ist nicht nur unsichtbar, sondern unsagbar. Sie zeigt sich aber als eindrucksvolle Stille, als Dichte, als Kraft und Milde. Aber all das hier, alles Manifestierte, ist dann schon in den Hintergrund gerückt. „Diese Sache“ ist vor der Manifestation. Sie ist vor allem, wofür ich mich gehalten habe, vor allem, was ich als Realität aufgefasst habe, sei es innen oder außen.
Und weiter?
Früher einmal bestand meine Wirklichkeit aus Wachzustand, Traum und Schlaf und jemandem, der diese drei Zustände erlebte. Und dann schob sich auf einmal „diese Sache“ vor all das. Sie tauchte diese drei Welte des Wachens, Träumens und Schlafens in ihr Licht. Sie übernahm die Führung, und alles – Wachzustand, Traum und Schlaf mit ihren Inhalten – rückte in den Hintergrund.
Als ginge „diese Sache“ allem voraus?
Als ginge sie allem voraus, wofür ich mich gehalten habe, auch dem, was ich sehe, fühle und denke. Es ist, als wäre da ein Sehen in mir entstanden. Es sieht, dass „diese Sache“ sowohl stärker als auch sanfter ist als alles, was überhaupt existiert, als alles, was ich zu sein glaubte, als alles Denkbare, Vorstellbare. Als ich das erkannt hatte und sah, dass ich damit gut leben konnte, habe ich mich ihm vollkommen überlassen.
Als würdest du gänzlich in „dieser Sache“ ruhen, eher als in dir selbst?
Als existierte ich gar nicht mehr als Person wie zuvor. Als wäre etwas von mir zu Ende gegangen, als hätte „diese Sache“ urplötzlich eine Kraft entfaltet, die mich leitet. Als hätte die Person, das Ego, damit aufgehört, sich von Augenblick zu Augenblick immer wieder zusammenzusetzen. […]
Was die Augen sehen, die Ohren hören, die Haut fühlt, all das lässt sich nicht mehr zur Beschreibung der Realität verwenden. „Diese Sache“ ist nämlich immer schon vor allem anderen da, ständig und jeden Augenblick wieder. Sie geht allen Phänomenen voraus, allen Erfahrungen, aus denen mein Dasein früher bestand. Ich könnte es auch so sagen: Alle Dinge werden gleichsam von „dieser Sache“ gesehen, die den Vordergrund einnimmt, und alles, was ich sehe, höre oder spüre, spielt sich im Hintergrund ab.
Quelle: Yolande Duran-Serrano „Die Frau, die an einem ganz normalen Sommertag plötzlich keine Gedanken mehr im Kopf hatte: Erfahrung einer Erleuchtung, Seite 14-37 (Auszüge)
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