Ingo Zacharias

Freiheit des Jetzt

Vom Gedanken-Ich zur Präsenz-Identität

Ken Wilber: Ruhe im unsichtbaren Zeugen und versuche nicht, das Ich loszuwerden

Die meisten Menschen begehen auf dem Weg zum Einen Geschmack zwei Fehler. Der erste geschieht beim Kontakt mit dem Zeugen, der zweite beim Übergang vom Zeugen zum Einen Geschmack selbst.

Der erste Fehler: Beim Versuch, Verbindung mit dem Zeugen (oder Ich-Ich) aufzunehmen, glauben viele Menschen, dass sie etwas sehen werden. Aber man sieht gar nichts: Man ruht einfach als der Zeuge von allem, was zum Vorschein kommt: Man ist der reine und leere Seher, nicht etwas, das man sehen könnte. Es wäre falsch, den Seher als besonderes Licht, als große Wonne, als plötzliche Vision sehen zu wollen: Dies sind alles Objekte; sie sind nicht der Zeuge, der man selbst ist.

Natürlich wird man, wenn man den Einen Geschmack erreicht hat, alles sein, was man sieht, aber man kann nicht damit anfangen, die Wahrheit sehen zu wollen, denn durch diesen Versuch blockiert man sich selbst. Man muss mit „neti, neti“ anfangen: Ich bin nicht dies, ich bin nicht jenes.

Der Zeuge kann nicht zu einem Objekt gemacht werden

Der erste Fehler besteht also darin, dass man den Zeugen sabotiert, indem man versucht, ihn zu einem Objekt zu machen, das man ergreifen kann, während er einfach der Seher aller aufgehenden Objekte ist und nur als eine große Hintergrundempfindung der Freiheit von allen Objekten „gefühlt“ werden kann.

Wenn man in dieser Freiheit und Leerheit ruht und neutral alles in Erscheinung Tretende bezeugt, dann stellt man fest, dass das getrennte Selbst (oder Ich) einfach wie alles andere im Bewusstsein erscheint. Man kann die Selbstzusammenziehung tatsächlich fühlen, wie man seine Beine, einen Tisch, einen Stein oder seine Füße fühlt. Die Selbstzusammenziehung ist eine Empfindung innerer Anspannung, die oft hinter den Augen sitzt und sich in einer leichten Muskelspannung im ganzen Körpergeist äußert. Es ist eine Anstrengung und eine Empfindung der Zusammenziehung im Angesicht der Welt. Es ist eine subtile Ganzkörperspannung.

Nehmen Sie einfach diese Spannung wahr. Wenn man einmal gelernt hat, als der leere Zeuge zu ruhen, und die Anspannung der Selbstzusammenziehung gewahrt, dann glaubt man vielleicht, dass der letzte Schritt vom Zeugen zum Einen Geschmack dadurch gelingt, dass man sich von der Selbstzusammenziehung (vom Ich) befreit. Genau dies ist aber der zweite Fehler, weil dadurch die Selbstzusammenziehung gerade zementiert wird.

Nur das Ich will sich von sich selbst befreien

Ken Wilber

Man glaubt, dass die Selbstzusammenziehung den GEIST verbirgt oder behindert, während sie in Wirklichkeit wie jede andere Form im Universum einfach eine strahlende Manifestation des GEISTES ist. Alle Formen sind nichts anderes als Leerheit, auch die Form des Ich. Außerdem ist das Einzige, das sich vom Ich befreien möchte, das Ich selbst. Der GEIST liebt alles in Erscheinung Tretende genau so, wie es ist. Der Zeuge sieht alles in Erscheinung Tretende genau so, wie es ist.

Der Zeuge liebt das Ich, weil der Zeuge der Unparteiische Spiegel-Geist ist, der alles in Erscheinung Tretende in gleicher Weise wiedergibt und ganz annimmt. Aber weil das Ich davon überzeugt ist, dass es seine Stellung noch fester behaupten könnte, beschließt es, das Spiel der Befreiung von sich selbst zu spielen – einfach deshalb, weil es natürlich so lange weiterexistiert, solange es dieses Spiel spielt (wer sonst würde es spielen?). Zhuangzi sagte schon vor langer Zeit: „Ist nicht der Wunsch, das Ich loszuwerden, selbst eine Manifestation des Ichs?“

Das Ich ist keine Sache, sondern eine subtile Anstrengung, und man kann sich nicht anstrengen, Anstrengung zu vermeiden: Dann hat man höchstens zwei Anstrengungen statt einer einzigen. Das Ich selbst ist eine vollkommene Manifestation des Göttlichen, und man rückt ihm am besten dadurch zu Leibe, dass man in der Freiheit ruht, nicht dadurch, dass man versucht, es loszuwerden, wodurch man nur die Anstrengungen des Ichs selbst vermehren würde.

Wie sieht dies also in der Praxis aus? Wenn man im Zeugen, im Ich-Ich oder in der Leerheit ruht, gewahrt man einfach die Selbstzusammenziehung. Ruhe im Zeugen und fühle die Selbstzusammenziehung. Wenn du die Selbstzusammenziehung fühlst, bist du schon frei von ihr: Du bist schon ihr Betrachter, statt dich mit ihr zu identifizieren. Du betrachtest sie aus der Position des Zeugen, der immer schon frei von allen Objekten ist.

Ruhe also als der Zeuge und fühle die Selbstzusammenziehung, wie du den Stuhl unter dir, die Erde und die am Himmel dahingehenden Wolken fühlen kannst. Gedanken ziehen im Geist vorüber, Empfindungen ziehen im Körper vorüber, die Selbstzusammenziehung schwebt im Gewahrsein, und anstrengungslos und spontan gewahrst du dies alles in gleicher Neutralität.

Du kannst nichts tun, um den Einen Geschmack zu erzeugen

In diesem schlichten, einfachen, anstrengungslosen Zustand – in dem du nicht versuchst, die Selbstzusammenziehung abzuschütteln, sondern sie einfach fühlst, und in dem du daher als der große Zeuge oder die Leerheit ruhst, die du bist – könnte der Eine Geschmack aufblitzen. Es gibt nichts, was du tun könntest, um den Einen Geschmack zu erzeugen: Er ist immer schon ganz gegenwärtig, er ist nicht das Ergebnis bestimmter Handlungen, und du hast ihn niemals verloren.

Das Einzige, was man tun kann, ist, die beiden genannten Fehler zu vermeiden: Versuche nicht, den Zeugen als Objekt zu sehen, sondern ruhe einfach im Zeugen als der Seher; versuche nicht, das Ich abzuschütteln, sondern fühle es einfach.

Dann gelangst du zum Rand, zur Klippe deines eigenen ursprünglichen Antlitzes. An diesem Punkt liegt nichts mehr in deinen Händen. Ruhe als der Zeuge, fühle die Selbstzusammenziehung: Dies ist der Raum, in dem der Eine Geschmack am leichtesten aufblitzen kann. Mache hieraus keinen strategischen Plan, sondern tue dies zufällig und spontan irgendwann am Tage und irgendwann in der Nacht, sodass du immer am Rand deiner eigenen schockierenden Erkenntnis bleibst.

Dies sind die Schritte: Ruhe als der Zeuge, fühle die Selbstzusammenziehung. Gewahre dabei, dass der Zeuge nicht die Selbstzusammenziehung ist: Er ist ihr Zeuge. Der Zeuge ist frei von der Selbstzusammenziehung, und du bist der Zeuge.

Als der Zeuge bist du frei von der Selbstzusammenziehung. Ruhe in dieser Freiheit, Offenheit, Leerheit. Fühle die Selbstzusammenziehung und lasse sie sein, wie du auch alle anderen Empfindungen sein lässt. Versuche nicht, die Wolken, die Bäume oder das Ich loszuwerden: Lasse sie einfach sein und entspanne dich im Raum der Freiheit, die du bist.

Der Eine Geschmack ist die Nässe des Wassers, nicht eine bestimmte Welle

Aus diesem Raum der Freiheit und zu einem Zeitpunkt, auf den du keinen Einfluss hast, stellst du vielleicht fest, dass die Empfindung der Freiheit kein Innen und kein Außen hat, keine Mitte und keinen Umfang. Gedanken ziehen in dieser Freiheit dahin, der Himmel zieht in dieser Freiheit dahin, die Welt geht in dieser Freiheit auf, und du bist das. Der Himmel ist dein Kopf, die Luft dein Atem, die Erde deine Haut – so nahe ist alles und noch näher. Du bist die Welt, solange du in dieser Freiheit ruhst, die unendliche Fülle ist.

Dies ist die Welt des Einen Geschmacks: Ohne Innen und ohne Außen, ohne Subjekt und ohne Objekt, ohne hier und da. Ohne Anfang und ohne Ende, ohne Mittel und ohne Wege, ohne Pfad und ohne Ziel. Dies ist, wie Ramana sagte, die endgültige Wahrheit.

Dies ist, wie man es nennen könnte, eine „überkuppelnde Übung“. Tue dies nicht statt, sondern zusätzlich zu allen deinen sonstigen Übungen: Zentrierendes Gebet, Vipassana, Gebet des Herzens, Dhikr, Zazen, Yoga usw. Alle diese sonstigen Praktiken lehren dich, in einen bestimmten Bewusstseinszustand einzutreten, aber der Eine Geschmack ist kein bestimmter Zustand: Er ist mit allen Zuständen verträglich, wie Nässe in jeder Welle des Ozeans voll gegenwärtig ist. Eine Welle kann höher sein als eine andere, aber nicht nasser.

Der Eine Geschmack ist die Nässe des Wassers, nicht eine bestimmte Welle, und dies ist der Grund, warum spezifische Praktiken wie Gebet, Vipassana oder Yoga nicht zum Einen Geschmack hinführen können. Alle spezifischen Praktiken führen zu einer bestimmten Welle hin, meist einer wahrhaft großen Welle, und dies ist völlig in Ordnung. Aber der Eine Geschmack ist die Nässe auch noch der allerkleinsten Welle, weshalb jede Bewusstseinswelle, in der du dich jetzt befindest, in Ordnung ist. Ruhe bei dieser Welle, fühle die Selbstzusammenziehung und stehe in Freiheit.

Erst wenn du des Wellenreitens müde bist, wirst du für die Nässe jeglicher Welle offen sein

Aber setze zuerst deine sonstigen Übungen fort, weil du mit ihrer Hilfe Bekanntschaft mit spezifischen und wichtigen Wellen deines eigenen Bewusstseins machen wirst (psychisch, subtil und kausal), die alle wichtige Vehikel deiner vollen Manifestation als GEIST sind. Und weil zweitens der Eine Geschmack zu einfach ist, als dass man es glauben könnte, und zu mühelos, als dass man ihn mit Anstrengung erreichen könnte, wird den meisten Menschen niemals auffallen, dass die Welle, auf der sie sich gerade befinden, nass ist.

Sie bemerken niemals die Soheit ihres gegenwärtigen Zustandes. Stattdessen machen sie Wellenreiten zu ihrem Lebensinhalt; sie hoffen auf immer größere und bessere Wellen, auf denen sie surfen können – und ich muss ehrlich sagen, dass dies ja auch ganz in Ordnung ist.

Diese typischen spirituellen Praktiken werden dir gerade deshalb, weil sie dich zu immer subtileren Erfahrungen hinführen, dabei helfen, ganz unbemerkt der Erfahrungen überhaupt müde zu werden. Wenn du des Wellenreitens müde bist, wirst du für die Nässe der Soheit jeglicher Welle, auf der du dich gerade befindest, offen sein. Der reine Zeuge an sich ist keine Erfahrung, sondern vielmehr die Lichtung, in der alle Erfahrungen kommen und gehen. Solange du Erfahrungen hinterherjagst, und seien es spirituelle Erfahrungen, wirst du niemals als der Zeuge ruhen, geschweige denn in den allgegenwärtigen Ozean des Einen Geschmacks stürzen.

Aber indem du der Erfahrungen müde wirst, wirst du als der Zeuge ruhen, und als der Zeuge kannst du die Nässe gewahren (den Einen Geschmack). Dann wird der Wind dein Atem sein, Sterne die Neuronen in deinem Gehirn, die Sonne der Geschmack des Morgens, die Erde die Empfindungen deines Körpers. Dein Herz wird sich für das All öffnen, der Kosmos wird in deine Seele einschießen, du wirst dich als unzählige Galaxien erheben und in alle Ewigkeit umherwirbeln. Es gibt nur noch aus sich selbst existierende Fülle in der ganzen Welt, es gibt nur sich selbst betrachtendes Strahlen hier in der Leerheit, eingemeißelt in die Wand der Unendlichkeit, für alle Ewigkeit hier, die eine und einzige Wahrheit: Es gibt einfach nur das, ein Fingerschnippen, nichts weiter.

Quelle: Ken Wilber „Einfach DAS“, Eintrag 31. Oktober

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  1. Ingrid

    „Selbstzusammenziehung“ bemerken und „Offenheit“ für die Nässe jeglicher Welle – sehr schön beschrieben von Ken Wilber. Vielen Dank lieber Ingo für diese Inspirationen :-).

  2. Nil

    Auch von mir vielen Dank. Die Wirklichkeit ist sowohl tranzcendent als auch immanent. Das Zeugenbewusstsein bezeugt diesen Sachverhalt…….

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