Die immer noch revolutionäre Einsicht des Buddhismus lautet: Leben und Tod sind im Geist, und nirgendwo sonst. Der Geist ist die universelle Basis aller Erfahrung – der Schöpfer von Glück und Unglück, der Schöpfer auch dessen, was wir Leben und Tod nennen.

Es gibt zwei verschiedene Aspekte des Geistes; die beiden wichtigsten möchte ich hier vorstellen. Der erste ist der gewöhnliche Geist, im Tibetischen Sem genannt. Ein Meister definierte diese Ebene folgendermaßen: „Das, was unterscheidendes Gewahrsein besitzt, was Dualität erlebt, etwas Äußeres ergreift oder abweist, ist der Geist. Er ist das, was sich mit etwas ‚Anderem’ verbindet – mit ‚Etwas’, das als getrennt vom Wahrnehmenden erfahren wird.“ (Chögyam Trungpa „Das Herz des Buddha“) Sem ist der diskursive, dualistische, denkende Geist, der nur in Verbindung mit projizierten und falsch wahrgenommenen äußeren Bezugspunkten funktionieren kann.

Sem ist also der Geist, der denkt, plant, begehrt, manipuliert, der im Zorn auflodert, der Wogen von negativen Gedanken und Emotionen erschafft, in ihnen schwelgt und fortwährend seine eigene „Existenz“ beweisen, sichern und bewerten muss, indem er Erfahrung fragmentiert, konzeptualisiert und verfestigt. Der gewöhnliche Geist ist die unbeständige und widerstandslose Beute äußerer Einflüsse, gewohnheitsmäßiger Tendenzen und Konditionierungen. Die Meister vergleichen Sem mit einer Kerzenflamme in einem offenen Durchgang – allen Winden der Umstände hilflos ausgeliefert. […]

Es gibt aber auch die wahre Natur des Geistes, seine innerste Essenz, die vom Wandel und Tod ganz und gar unberührt bleibt. Zur Zeit liegt sie in unserem eigenen, gewöhnlichen Geist – im Sem – verborgen, ist verhüllt und verdeckt von der mentalen Geschäftigkeit unserer Gedanken und Emotionen. Aber so wie Wolken von einem starken Wind davon geblasen werden können und die strahlende Sonne und den weit offenen Himmel enthüllen, so kann, unter gewissen Umständen, eine besondere Inspiration Einblicke in diese Natur des Geistes auslösen.

Sogyal Rinpoche

Sogyal Rinpoche

Diese Einblicke sind von unterschiedlicher Tiefe und haben viele Grade, aber jeder erhellt unser Verständnis und bringt mehr Sinn und Freiheit. Das ist möglich, weil die Natur des Geistes der Ursprung des Verstehens selbst ist. Auf Tibetisch heißt diese Natur des Geistes Rigpa: ursprüngliches, reines, makelloses Gewahrsein, das gleichzeitig intelligent, erkennend, strahlend und stets wach ist. Man könnte es das Wissen des Wissens selbst nennen.

Wir dürfen aber keinesfalls den Fehler machen anzunehmen, dass die Natur des Geistes sich ausschließlich auf den Geist beschränkt. Tatsächlich ist sie die Natur von allem. Es kann nicht oft genug betont werden: die Natur des eigenen Geistes erkennen bedeutet, die Natur von allem zu erkennen. […]

Denn obwohl wir dieselbe innere Natur besitzen wie der Buddha, haben wir sie doch nicht erkannt, weil sie so verschlossen und eingehüllt ist in unseren individuellen, gewöhnlichen Geist. Stellen Sie sich eine leere Vase vor: Der Raum innen ist der gleiche wie der Raum außen. Nur die zerbrechlichen Wände der Vase trennen den einen vom anderen. Unser Buddha-Geist ist eingeschlossen von den Wänden unseres gewöhnlichen Geistes. Aber wenn wir Erleuchtung erlangen, dann ist es, als ob die Vase zerspringt.

Der Raum „innen“ verschmilzt augenblicklich mit dem Raum „außen“. Sie werden eins. In diesem Moment erkennen wir: Sie sind niemals getrennt oder verschieden gewesen, sie waren immer schon dasselbe. […]

Unsere wahre Natur ließe sich mit dem Himmel vergleichen und die Verwirrtheit des gewöhnlichen Geistes mit den Wolken. An manchen Tagen ist der Himmel vollständig von Wolken verhangen. Wenn wir unten auf der Erde stehen und nach oben schauen, ist es schwer zu glauben, dass es etwas anderes als Wolken geben kann. Aber wir müssen nur in einem Flugzeug aufsteigen, um über der Wolkendecke die grenzenlose Weite des klaren, blauen Himmels zu entdecken. Von dort oben erscheinen die Wolken, die wir für alles gehalten haben, so unbedeutend und ganz weit unten.

Wir sollten uns immer daran erinnern, dass die Wolken nicht der Himmel sind. Ohne im zu „gehören“, hängen sie auf fast schon lächerliche Weise einfach dort und ziehen vorbei. Sie können den Himmel niemals in irgendeiner Weise verschmutzen oder beflecken.

Quelle: Sogyal Rinpoche „Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben“, S. 69-72