Sagt ein Kind zum ersten Mal zu sich „ich“, erfasst es sich zum ersten Mal selbst. Es bezieht das Wort nur auf sich und erlebt sich dadurch im Gegensatz zum Außen. Erst jetzt erkennt das Kind sich im Spiegel. Vorher läuft es noch hinter den Spiegel, und will schauen, wer dahinter steht und wer durch ihn hinausschaut. In dem Moment, wo es „ich“ sagt, erlebt es: Das bin ja ich selbst.
Bevor Kinder zu sich „ich“ sagen, malen sie Bilder mit vielen unterschiedlichen Kreisen. In dem Moment jedoch, in dem Kinder zu sich “ich” sagen können, malen Sie in diese Kreise einen Punkt hinein. Es ist irgendetwas geschehen, es gibt auf einmal einen Bezugspunkt, von dem aus sie sich in Beziehung zur Welt setzen können.
Mit diesem Entwicklungsschritt geht ein Denken einher, dass das, was lebt, handelt, fühlt, ich bin, im Gegensatz zu etwas anderem außerhalb von mir. Jetzt entwickelt sich eine Beziehung zu einem Du, und auch das Gefühl von einem Mein entsteht.
Nun ist die Sandschaufel meine und der Bagger gehört mir. Nimmt jetzt ein anderer mein Spielzeug, wird es aufs heftigstes verteidigt. Nun erst kann ein Kind lernen, dass es ein Du gibt und dieses Du auch einen Bereich hat, der von dem Mein getrennt ist. Trotzdem müssen dieses Mein und Dein in Beziehung treten, um überleben zu können.
Mit diesem Entwicklungsschritt erlebt sich der Mensch von den anderen getrennt, kann an sich und der Welt zweifeln und daran leiden. Dieses Entzweitsein bis hin zur Verzweiflung kennen wir Menschen alle, es gibt viele Situationen, die wir als nicht zu uns gehörig empfinden und auch nicht als solche sehen wollen. Jeder Mensch besitzt dieses entzweiende Bewusstsein, das uns aus dem Paradies hinausgeworfen hat und uns von dem anderen absondert.
Die Folgen sind für uns Menschen beträchtlich: Das Mein ist übermächtig und es gehört eine große Übung dazu, das Dein nicht aus dem Blick zu verlieren. Großartig gelungen ist dies einem Meister, der auf die Aussage eines Schülers: „Meister, ich bin innerlich so frei und so von mir losgelöst, dass ich nie mehr an mich selbst denke, sondern nur noch an andere“, wie folgt antwortet: „Ich bin innerlich so frei und so sehr von mir losgelöst, dass ich mich selbst betrachten kann, als wäre ich ein anderer, und deshalb kann ich auch an mich selbst denken.”
Das ist eine unglaubliche Aussage, denn sie dreht nicht nur das Mein und Dein völlig um. Aus dem Dein wird nicht ein Mein und aus dem Mein kein Dein, sondern Mein und Dein werden aufgelöst. Das Ich wird zu einem anderen.
Das ist der große Schritt, den wir als Menschen zu gehen haben, wenn wir umfassend in Beziehung treten möchten. Erst empfinden wir uns als Kleinkind eins mit allem, doch unbewusst, dann erfahren wir uns als Ich getrennt von der Welt, mit der Pubertät sogar oftmals verlassen von der Welt. Dieser Trennung muss die Erfahrung der Einheit von Ich und Welt folgen.
Im Zen ist sogar noch ein weiterer Schritt gefordert: Es geht nicht nur darum, sich selbst aufzugeben und mit der Welt eins zu werden. Der Meister drückt es ganz konkret aus, wohin unser Weg vielmehr geht, er sagt: „Ich kann mich betrachten als einen anderen.“ Was meint er?
Sitzen wir in Zazen, beschreibe ich unsere Übung gern mit dem Bild, das wir aus uns einen Beobachter „herausziehen“, der sich selbst wahrnimmt. Im ersten Moment mag es so aussehen, als ob es ein Ich außerhalb gäbe, das Zeuge der inneren Vorgänge ist. Doch das ist noch Illusion. Es gibt kein Ich, das beobachtet, denn man wird sich selbst der Wahrnehmung bewusst.
Wahrnehmen, Wollen, das unterscheidende Denken, Fühlen – alle Formen sind Ausdrucksformen des Bewusstseins. Es ist das Bewusstsein selbst, das sich in seinen Verdichtungen erfährt, sich seiner gewahr wird. Es ist kein Ich, das sich erkennt, sondern das Bewusstsein selbst nimmt sich als Ich wahr. Das Bewusstsein selbst erkennt sich als Ich, genauso wie es sich als jeder andere Form erlebt.
Diese Zen-Weisheit will in unserer Zen-Geschichte zum Thema Name der Zen-Schüler Sansho Meister Kyozan zeigen. Er antwortet auf die Frage: „Wie ist dein Name?“, mit nur einem Satz: „Mein Name ist Kyozan.“ Sansho verweist darauf, dass alles, was er sieht, was jemand anderer sieht, nicht außerhalb von ihm oder des anderen ist: Ich bin Du und Du bist Ich.
„Das ist doch mein Name“, meint daraufhin Kyozan und will wissen, ob Sansho diese Weisheit wirklich bis ins Tiefste durchdrungen hat. Jetzt antwortet Sanshso völlig anders, er meint: „Ich heiße Sansho.“
Nimmt er damit seine vorherige Aussage wieder zurück? Nein, ganz und gar nicht. Obwohl er mit Kyozan eins ist, ist dennoch in diesem einen Augenblick ganz und gar Sansho. Unser wahres Wesen ist dasselbe, unser Ausdruck zeigt sich in jedem Moment neu.
Kyozan lacht schallend. Das Zeichen seiner Freude und seiner Zustimmung. Sansho hat es durchdrungen.
Diese Geschichte macht deutlich, was für Zen die Grundlage jeder Beziehung ist. Es geht nicht darum, sich als Ich von einem Du abzusetzen, sondern zutiefst zu erkennen, dass mein Ich das Du ist, doch nicht als „Einheitsbrei“, nicht als Verschmelzung der beiden, wie wir es oft als innige Liebe beschreiben, sondern im Zen ist es immer das eine Leben selbst, das Bewusstsein, das sich als ich und als du zeigt. In ihrem wahren Wesen sie sind dieselben, in ihrer Erscheinungsform sind sie unterschiedlich.
In dieses Bewusstsein einzutauchen heißt, sich im und als Fluss des Lebens zu erfahren, alles als Ausdruck des einen großen Lebens zu erkennen. In dir vollzieht sich das eine Leben, in mir vollzieht es sich, in allem. Es gibt nichts, worin nicht dieses eine Leben erscheint. Darin bin ich du und du bist ich. Dieses Bewusstsein der Einheit mit allem wird als Erwachen bezeichnet. […]
Lassen Sie mich es noch einmal wiederholen: Das Leben vollzieht sich in jedem Augenblick in unendlich vielen Formen, es erscheint in mir, in Ihnen, es ereignet sich in einem Ich und einem Du. Doch nichts ist voneinander getrennt, in allem webt und lebt dieses eine Bewusstsein.
Übertrage ich dies auf die zwischenmenschliche Beziehung, heißt das, wir sind mit allen Wesen eins. Doch nicht als symbiotische Gemeinschaft, in der wir gewissermaßen miteinander verschmolzen sind, sondern wir sind in der Einheit in jedem Augenblick einzigartig und unterschiedlich zugleich.
Obwohl wir miteinander eins sind, ist jeder Einzelne nicht kontur-, nicht formlos. Wir sind Nicht-Zwei. Im Ausdruck sind wir unterschiedlich, in der Form sind wir Mann oder Frau, Tier oder Pflanze. In der Form zeigt sich das Bewusstsein in mir anders als in allen und allem anderen und dennoch sind wir in unserem Wesen dieselben.
Nehmen wir dies ernst, folgt daraus: Wenn wir in Beziehung zu Menschen stehen, ist der andere, der uns im ersten vielleicht fremd erscheinen mag, dennoch nicht von uns getrennt. Er ist von seinem Wesen her dasselbe Wesen wie ich. Der andere wird für mich zu einer Chance zu erkennen, wer ich bin. Nicht, dass er der Gleiche ist wie ich, das Gleiche tut, das Gleiche denkt wie ich – gerade das andere zeigt mir, was ich selbst zutiefst ebenso bin.
Schreibe einen Kommentar