„Ungeborene Leerheit hat abgelassen von den Extremen des Seins und des Nichtseins. Daher ist sie sowohl die Mitte selbst als auch der Mittlere Weg. Leere ist der Pfad, auf welchem der in seiner Mitte ruhende Mensch geht.“ – Tsongkhapa
Befangenheit, das ständige und übermäßige Bewusstsein meiner selbst, steht in meinem Leben ganz im Vordergrund und ist zugleich doch eine höchst unsichere Sache. Wenn ich bei der Meditation mein Ich zu finden versuche, ist es so, als wollte ich meinen eigenen Schatten fangen. Ich greife danach, aber da ist nichts.
Dann taucht es woanders wieder auf. Ich erspähe es gleichsam aus dem Augenwinkel, aber kaum wende ich mich ihm ganz zu, ist es schon wieder weg. Immer wenn ich meine, jetzt hätte ich es, stellt sich heraus, dass es doch wieder etwas anderes ist: eine Körperempfindung, eine Stimmung, eine Wahrnehmung, ein Impuls oder einfach die Bewusstheit als solche.
Ich kann also nicht auf irgendeine körperliche oder geistige Gegebenheit zeigen und dann sagen: „Ja, das bin ich.“ Alle diese Dinge kommen und gehen, während das Ich-Gefühl konstant bleibt. Aber ich kann meinen Finger auch nicht auf etwas anderes als diese Gegebenheiten und Züge legen, denn so flüchtig und beliebig sie auch sein mögen, ich bin doch durch sie definiert.
So ist das Ich also wahrscheinlich kein Etwas, aber es ist auch nicht nichts. Es ist einfach nicht zu fassen, nicht festzulegen. Was ich bin, das bin ich nicht durch ein essentielles Ich, das sich irgendwo in meiner Tiefe verbirgt, sondern aufgrund der einzigartigen Matrix von Bedingungen, die mich geformt hat. Je tiefer ich der Frage nachspüre, was ich bin (oder was irgend etwas ist), desto klarer wird, daß ich nirgendwo ankommen werde. Es gibt kein Ende, nur eine unendliche Bahn, die sich von den Extremen des Seins und Nichtseins fernhält. […]
Man kennt die Leere noch nicht, wenn man den Begriff verstanden hat. Sie kennenlernen ist eher so etwas wie im Wald auf eine Lichtung zu stoßen, wo man sich plötzlich frei bewegen und klar sehen kann. Die Leere erleben heißt das schockierende Fehlen all dessen, was normalerweise Ihr Ich-Empfinden und Ihr Weltbild ausmacht.
Vielleicht dauert es nur einen Augenblick, bis die Gewohnheiten eines ganzen Lebens sich wieder durchsetzen und alle Lücken schließen. Aber in diesem einen Augenblick erkennen wir uns und die Welt als offen und empfänglich. Dieser ruhige, freie, offene und sensible Raum ist die Mitte der Dharma-Praxis – unmittelbar, sehr nah, dynamisch. […]
»Leere« oder »Leerheit« ist ein irreführender Begriff. Grammatisch gesehen ein Abstraktum, ist dieses Wort dennoch keine Bezeichnung eines abstrakten Gegenstands oder Zustands. Leere ist nicht ein Etwas, das wir in einem Augenblick mystischer Einsicht »realisieren«, wenn wir zu einer transzendenten Wirklichkeit »durchbrechen«, die hinter der empirischen Welt verborgen liegt und doch auf geheimnisvolle Weise deren Grundlage ist.
Die Dinge gehen auch nicht aus der Leere hervor oder lösen sich wieder in ihr auf, als wäre sie eine Art gestaltloser kosmischer Stoff. Das alles sind nur Versuche, die Leere zu einer metaphysischen oder religiösen Tröstungs-Metapher umzudeuten.
»Leere« hat ja zunächst wenig Begehrenswertes an sich und ist auch ursprünglich dazu da, das Verlangen nach zu kurz greifenden Tröstungen zu unterlaufen. Erstaunlicherweise ist der Begriff aber gerade in den Dienst solchen Verlangens gestellt worden.
Der mit »Leere« übersetzte Sanskritbegriff, Shunyata, hat im Grunde wenig von jener Großartigkeit an sich, die vor allem im Westen zu seiner metaphysischen Umdeutung in »das Absolute« oder »die Wahrheit« oder sogar »Gott« geführt hat. So fiel der Gedanke der Leere also eben jener Gewohnheit des Geistes zum Opfer, die er unterbrechen sollte.
Die Leere hat so wenig ein in ihr selbst liegendes Sein wie eine getöpferte Schale, eine Banane oder eine Narzisse. Und gäbe es keine Schalen, Bananen und Narzissen, dann gäbe es auch keine Leere. Leere verneint nicht die Existenz solcher Dinge; sie beschreibt nur, inwiefern diese ohne ein in ihnen selbst liegendes, gesondertes Sein sind. Die Leere ist von der Welt der Alltagserfahrung nicht getrennt; sie besitzt überhaupt nur einen Sinn im Kontext des Schalentöpferns, Bananenessens und Narzissenpflanzens.
Ein auf das Bewusstsein der Leere hin orientiertes Leben ist einfach eine geeignete Weise, in dieser wechselvollen, schockierenden, schmerzhaften, freudvollen, frustrierenden, staunenswerten, widerspenstigen und widersprüchlichen Wirklichkeit zu existieren. Leere ist der Mittlere Weg, der nicht über diese Wirklichkeit hinausführt, sondern direkt in ihr Herz. Sie ist der Pfad, auf dem ein Mensch, der seine Mitte gefunden hat, geht.
Auch wir sind Abdrücke, von etwas hinterlassen, was einmal hier war. Wir wurden hervorgebracht und geformt von einer unübersehbaren Matrix zusammentreffender Gegebenheiten, die uns vorausgingen: von der DNS-Struktur, die unsere Eltern uns mitgaben, bis zum Feuerwerk der Abermilliarden Neuronen in unserem Gehirn, von der kulturellen und historischen Prägung des zwanzigsten Jahrhunderts, unserer Erziehung und Ausbildung, und schließlich sämtlichen Erfahrungen, die wir je gemacht, und sämtlichen Entscheidungen, die wir je gefällt haben: all das fließt zusammen zu dieser einzigartigen Lebensbahn, die in diesem gegenwärtigen Augenblick kulminiert.
Der unwiederholbare Abdruck all dessen ist das, was jetzt hier ist und was wir »ich« nennen. Aber dieses Bild ist so lebendig und verblüffend, dass wir es nicht als bloßen Abdruck erkennen, sondern für etwas unabhängig von seinen Bedingungen Existierendes halten.
Was sind wir also anderes als die Geschichte, die wir ständig wiederholen und dabei immer wieder überarbeiten, zensieren und ausschmücken? Das Ich ist nicht wie der Held eines Schmachtfetzens, dem die Stürme der Leidenschaft und die Intrigen, denen er vom Vorspann bis zum Ende ausgesetzt ist, nichts anhaben können. Es ähnelt mehr den komplexen, zwiespältigen Charakteren, wie sie im Verlauf eines Romans auftauchen, sich entwickeln und leiden. Es ist überhaupt nichts Dinghaftes an mir. Ich bin mehr wie eine sich entfaltende Erzählung.
Wenn uns das alles immer bewusster wird, werden wir die Verantwortung für den Lauf unseres Lebens mehr und mehr bei uns selbst sehen. Anstatt an Gewohnheiten und Routine zur Sicherung unseres Ichgefühls festzuhalten, stehen wir vor der Freiheit, uns selbst zu erschaffen. Anstatt uns von Abdrücken und Eindrücken blenden zu lassen, machen wir selbst welche. Anstatt uns so furchtbar ernst zu nehmen, finden wir Gefallen an der spielerischen Ironie einer Geschichte, die genau so noch nie erzählt wurde.
Quelle: Stephen Batchelor „Buddhismus für Ungläubige“, S. 92-99
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