[Wir suchen] Beständigkeit, Stetigkeit und Sicherheit, [um uns] dieses fortbestehenden Kerns zu vergewissern, dieses Mittelpunkts und dieser Seele unseres Seins, das wir das geistige “ICH” nennen. Denn dies halten wir für den wahren Menschen, den Denker unserer Gedanken, den Fühler unserer Gefühle und den Wisser unseres Wissens. Wir werden nie wirklich begreifen, dass es Sicherheit nicht gibt, bis uns klar wird, dass dieses geistige „ICH“ nicht existiert.
Bist du dir, während du diese gegenwärtige Erfahrung beobachtest, gewahr, dass jemand sie beobachtet? Kannst du neben der Erfahrung auch noch einen Erfahrenden entdecken? Kannst du diesen Satz lesen und während des Lesens gleichzeitig über dich als Leser nachdenken?
Du wirst entdecken, dass du, wenn du während des Lesens an dich denken willst, eine Sekunde aufhören musst mit dem Lesen. Die erste Erfahrung ist Lesen. Die zweite ist der Gedanken: „Ich lese.“ Kannst du irgendeinen Denkenden finden, der den Gedanken denkt „Ich lese“? Mit anderen Worten: Wenn die gegenwärtige Erfahrung der Gedanke ist „Ich lese“, kannst du dann an dich als diesen Gedanken denkend denken? Noch einmal: Du musst also aufhören, nur zu denken „Ich lese“. Du gehst über zu einer dritten Erfahrung, die der Gedanke: „Ich denke, dass ich lese“ ist.
Lass dich von der Schnelligkeit, mit der diese Gedanken einander folgen, nicht in das Gefühl hineintäuschen, du dächtest sie alle zu gleichen Zeit. Was aber ist geschehen? Niemals und zu keiner Zeit warst du imstande, dich selbst von deinen gegenwärtigen Gedanken oder von deiner gegenwärtigen Erfahrung abzusondern.
Die erste gegenwärtige Erfahrung war lesen. Sobald du versuchtest, an dich selbst als lesend zu denken, wechselte die Erfahrung, und die nächste gegenwärtige Erfahrung war der Gedanke: „Ich lese“. Du konntest dich von dieser Erfahrung nur loslösen, indem du zu einer anderen übergingst. Als du dachtest: „Ich lese diesen Satz“, hast du ihn nicht gelesen.
Mit anderen Worten: Bei jeder augenblicklichen Erfahrung warst du dir nur eben dieser Erfahrung gewahr. Du warst dir niemals gewahr, gewahr zu sein. Du warst niemals imstande, den Denkenden vom Gedanken zu trennen, den Wissenden vom Wissen. Alles, was du je erfandest, war ein neuer Gedanke, eine neue Erfahrung. Gewahrsein ist also, der Gedanken, Sinnes-Empfindungen, Wünsche und all der anderen Arten von Erfahren gewahr zu sein.
Nie und zu keiner Zeit bist du etwas gewahr, das nicht Erfahrung ist, das nicht Gedanke oder Gefühl ist, sondern stattdessen ein Erfahrender, Denkender oder Fühlender.
Es gibt einfach nur Erfahrung! Nicht irgendetwas oder irgendjemand, der Erfahrung erfährt. Du fühlst keine Gefühle, denkst keine Gedanken oder empfindest keine Empfindungen, ebenso wenig wie du Hören hörst, Sehen siehst oder Geruch riechst.
„Es geht mir gut“ heißt, dass du im Augenblick ein Gefühl des Gutgehens hast. Es heißt nicht, dass es so eine Sache wie das geistige „ICH“ gibt und eine andere, gesonderte Sache, ein Gefühl, so dass, wenn du die beiden zusammenbringst, dieses „ICH“ das Gefühl des Gutgehens fühlt. Es gibt keine anderen als augenblickliche Gefühle, und welches Gefühl gegenwärtig ist, ist „ICH“.
Niemand fand je ein „ICH“, gesondert von einer gegenwärtigen Erfahrung oder Erfahrungen gesondert von einem „ICH“ – was nur heißen will, das beide das Gleiche sind.
Der wirkliche Grund, warum das menschliche Leben so äußerst verbitternd und enttäuschend sein kann, liegt nicht darin, dass es Tod, Schmerz, Furcht oder Hunger gibt. Das Wahnsinnige daran ist, dass wir – sobald solche Tatsachen gegenwärtig werden – zu kreisen, herumzusausen, uns zu winden und zu wirbeln beginnen in dem Versuch, das „ICH“ aus der Erfahrung loszubekommen.
Wir tun, als wären wir Amöben, und versuchen uns vor diesem Leben zu schützen, indem wir uns in zwei Teile spalten. Gesundheit, Vollständigkeit und Unversehrheit liegen in der Erkenntnis, dass wir ungeteilt sind, dass der Mensch und seine gegenwärtige Erfahrung eins sind, und dass es ein abgesondertes „ICH“ oder Denken nicht gibt.
In Zeiten von Glück und Freude sind wir leicht bereit, uns des Augenblicks gewahr zu sein und die Erfahrung alles sein zu lassen. In solchen Augenblicken „vergessen wir uns selbst“, und das Denken macht keinen Versuch, sich von sich selbst zu teilen und sich von der Erfahrung abzusondern. Sobald jedoch Schmerzen eintreten, seien sie physisch oder gefühlsbedingt, wirklich oder vorgeahnt, beginnt die Spaltung und damit der ständige Kreislauf.
Sobald es offenbar wird, dass das geistige „ICH“ der Wirklichkeit der Gegenwart einfach nicht entfliehen kann, das dass geistige „ICH“ nichts anderes ist als das, was ich jetzt weiß, wird der innere Aufruhr enden. Es bleibt keine andere Möglichkeit, als sich des Schmerzes, der Furcht, der Langeweile oder des Kummers ebenso vollkommen gewahr zu sein wie der Freude.
Frei vom Sich-selbst-Ergreifen können die Hände tätig werden; frei vom Sich-selbst-Suchen können die Augen sehen; frei vom Versuch, sich selbst zu verstehen, kann der Geist denken. In solchem Fühlen, Sehen und Denken verlangt das Leben keine Zukunft, um sich selbst zu vollenden, keine Erklärung, um sich selbst zu rechtfertigen. In diesem Augenblick ist es beendet.
Der ungeteilte Geist jedoch ist frei von der Spannung, die versucht, stets außerhalb von sich selbst zu stehen und anderswo zu sein als hier und jetzt. Jeder Augenblick wird voll gelebt, und daraus ergibt sich ein Gefühl der Erfüllung und Vollendung.
Wenn du erkennst, dass du in diesem Augenblick lebst, ja dass du dieser Augenblick und kein anderer bist, dass es daneben keine Vergangenheit und keine Zukunft gibt, so musst du dich entspannen und alles auskosten – sei es nun Freude oder Schmerz.
Sofort wird offensichtlich, warum dies Weltall besteht, warum denkende Wesen, empfindungsfähige Organe geschaffen wurden, Raum, Zeit und Wechsel. Das ganze Problem, die Natur zu rechtfertigen, dem Leben in Begriffen der Zukunft einen Sinn zu verleihen, verschwindet völlig.
Offenbar besteht alles nur für diesen Augenblick. Es ist ein Tanz, und wenn du tanzt, willst du nicht irgendwo hingelangen. Du drehst dich rundherum, aber nicht in der Vorstellung, dass du irgendetwas verfolgst oder Klauen der Hölle entfliehen willst.
Quelle: Alan Watts „Die Weisheit des ungesicherten Lebens“, Kapitel „Über das Gewahrsein“
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