Ingo Zacharias

Freiheit des Jetzt

Vom Gedanken-Ich zur Präsenz-Identität

Adyashanti: Die Praxis „Ich bin“

Die zentrale Lehre und die zentrale Praxis von Nisargadatta ist, in dem Gefühl von „Ich bin“ zu verweilen. Ich möchte darüber sprechen, was damit gemeint ist, und vor allem, wie das in die Praxis umgesetzt werden kann. Das ist das Wichtigste.

Was ist dieses Gefühl von „Ich bin“? Der Schlüssel zu dieser Praxis ist – wie zu jeder spirituellen Praxis –, völlig auf dein eigenes Erleben und deine eigene Wahrnehmung konzentriert zu blieben. Das ist so wichtig, dass ich es nicht genug betonen kann. Erst dadurch kann das Potenzial dieser erstaunlichen spirituellen Praxis erschlossen werden.

Du kannst die Wortwahl ändern, wie sie am besten für dich funktioniert. Wenn ich diese Praxis lehre, bitte ich die Menschen, in ihr Gefühl von „Ich“ hineinzuspüren. Nisargadatta nannte es das Gefühl von „Ich bin“. Beides ist in Ordnung.

Wenn wir normalerweise über uns selbst nachdenken oder sprechen, sind wir darauf konzentriert, was dem „Ich bin“ folgt: „Ich bin gesund“, „Ich bin stark“, „Ich bin talentiert“, „Ich bin nicht talentiert“, „Ich bin krank“, „Ich bin wert“, „Ich bin nicht wert“, „Ich bin ein Mann“, „Ich bin eine Frau“, „Ich bin erleuchtet“, „Ich bin nicht erleuchtet“. Wir sind sind immer auf das konzentriert, was nach dem „Ich bin“ kommt. Und diese definierenden Worte, die nach dem „Ich bin“ kommen, sind grundsätzlich das, was unsere Ich-Identität ausmacht.

Wenn Nisargadatta sagt, sich auf das Gefühl von „Ich bin“ zu konzentrieren – oder das Gefühl von „Ich“ –, ist damit das „Ich“ vor all den definierenden Worten, vor all den definierenden Eigenschaften gemeint, bis hin zur Definition deines eigenen Geschlechts. Wenn du also einfach zu dir selbst im Geist „Ich bin“ oder „Ich“ sagst, und dich überhaupt nicht definierst, sei danach einfach für einen Augenblick still. Vielleicht hilft es, wenn du deine Augen für einen Moment schließt und zu dir selbst sagst: „Ich“ oder „Ich bin“.

Definiere dieses Gefühl von „Ich bin“ in keinster Weise. Verweile einfach damit, in deinem Körper, und spüre, wie sich das Empfinden von „Ich bin“ anfühlt. Indem du das tust, bringt es dich aus deinem Geist heraus, weil der Geist das ist, was alles definiert. Indem du in dem Gefühl von „Ich bin“ bleibst, bleibst du all den definierenden Tendenzen und Kommentaren des Geistes fern. Und so kommst du einfach zurück zur Reinheit, zur Einfachheit, zur Direktheit von dem, was du bist, bevor du dich selbst definierst.

Jede Definition, die du dir selbst gegeben hast oder geben wirst, ist flüchtig. Sie ist nur so lange da, wie dein Geist darauf besteht, dass sie da ist, also so lange, wie dein Geist sie wieder und wieder vorträgt. Sobald du aufhörst, über deine eigene Selbst-Definition nachzudenken, ist sie verschwunden.

Egal, ob deine Selbst-Definitionen gut oder schlecht sind – oder irgendetwas dazwischen –, du erkennst, das sie vollkommen flüchtig sind. Sie sind wie Gedanken, die über die Leinwand deines Bewusstseins ziehen. Indem du also zu dem „Ich bin“ gehst, konzentrierst du dich nicht darauf, was über die Leinwand deines Bewusstseins oder Gewahrseins zieht, sondern du bist einfach auf das Spüren und das Gefühl deines Gewahrseins selbst konzentriert.

Es gibt wirklich keinen richtigen oder falschen Weg dies zu tun, solange du nicht wieder im Geist gefangen bist. Nimm dir also einen Augenblick und sage zu dir selbst im Geist: „Ich bin“. In dem Moment, wo du dies sagst, ist das, was du fühlst, was du spürst, in Wirklichkeit die Natur des Bewusstseins. Du fühlst Bewusstsein. Du spürst in die Präsenz des Bewusstseins. „Ich bin“ ist einfach eine Art, deine Aufmerksamkeit auf die schlichte Präsenz des Bewusstseins zu richten, auf die Präsenz deines Wesens, darauf, wer du bist und was du bist vor allen Definitionen.

Nisargadatta sagte: „Verweile einfach in dem Gefühl von ‚Ich bin‘.“ Oder wie ich es zu Menschen sage: „Verweile einfach in dem Empfinden von ‚Ich‘.“ Einfach das. Halte es außerordentlich einfach.

Du kannst dies tun, wenn du meditierst. Du kannst dies tun, wenn du an deinem Haus arbeitest. Natürlich kannst du dies nicht zur gleichen Zeit tun, wenn du deinen Geist benutzen musst. Aber wenn du Auto fährst, wenn du herumläufst, wenn du einhundert Dinge am Tag machst, kannst du unmittelbar in dieses Gefühl von „Ich“ hineinspüren.

Wenn du das machst, wird dein Erleben von dir selbst immer weniger eindeutig. Damit meine ich, dass du dich weniger als eine eindeutig separate Entität mit vorgebenen und erkennbaren Grenzen empfinden wirst. Der Gedanke „Ich“ hat Grenzen in sich: „Ich“ im Gegensatz zu „Du“, oder „Ich“ im Gegensatz zur „Welt“, oder „Ich“ im Gegensatz zu irgendetwas anderem.

Das Gefühl von „Ich“, das das Empfinden und die Präsenz des Bewusstseins selbst ist, hat keine Grenzen in sich. Es hat keine erkennbare „Jemand-heit“ in sich. Da ist kein Gefühl einer völlig eindeutigen Entität. Es ist mehr eine diffuse Weite oder ein Empfinden von Präsenz als dass es ein Gefühl eines eng definierten Selbst ist.

Das ist also die Praxis: einfach in dem Gefühl von „Ich bin“ zu verweilen, in dem Gefühl von „Ich“.

Manchmal fragen mich Menschen: „Muss ich immer ‚Ich bin, Ich bin, Ich bin‘ sagen?“ Nein, musst du nicht. Wenn du einmal das Gefühl dafür hast, wie sich das „Ich“ anfühlt, wie sich das „Ich bin“ anfühlt, wie sich das Bewusstsein anfühlt, diese Präsenz, musst du nicht notwendigerweise „Ich bin, Ich bin, Ich bin, Ich bin“ zu dir selbst sagen. Ab einem gewissen Punkt gehst du direkt zu dem Empfinden, dem Gefühl selbst.

Aber denke gelegentlich daran, dass du nicht einfach in ein weiteres Erleben hineinspürst. Was du wirklich machst ist, die Natur von dir zu erforschen. Daran ab und zu zu denken ist wichtig. Du erforschst die Natur von dem, was und wer du bist, was du im Wesenskern bist, wer du vor allen Definitionen bist, wer du vor allen Eigenschaften bist, das „Du“, das sich nicht verändert.

Das ist auch etwas, was dir die Praxis von „Ich bin“ zeigen kann: dass das Empfinden der darunter liegenden Präsenz des Bewusstseins konstant ist. Es ist immer da. Es ist der Hintergrund, vor dem all unsere flüchtigen Selbst-Definitionen, unsere Emotionen, unsere Erlebnisse stattfinden. Sie entstehen aus, haben ihre Existenz in und ziehen dann durch dieses sehr einfache Gefühl von Präsenz, von „Ich“. Das kann dich letztlich direkt aus den ichbezogenen Einengungen zu einem viel weiteren Gefühl des Seins führen.

Und das letzte, was ich über diese Praxis sagen möchte, ist: Mach sie nicht mit der Erwartung, dass du zur richtigen Erfahrung gelangen wirst, die nicht in deiner gegenwärtigen Erfahrung ist. Du hältst nicht Ausschau nach irgendetwas, das nicht in deiner gegenwärtigen Erfahrung ist. Was die Praxis macht ist, dass sie dir hilft, dich immer klarer und eindeutiger auf das zu konzentrieren, was hier ist, nicht was vielleicht kommen mag. Nisargadatta sagte, dass du nach dem Ausschau hältst, was nicht kommt und geht.

Bleibe also einfach auf dein Erleben konzentriert. Mach dir keine Gedanken darüber, es zu definieren. Mach dir keine Sorgen darüber, ob du die richtigen oder falschen Erfahrungen hast. Spüre einfach in das Gefühl von „Ich“, das Gefühl von Stille und Präsenz, genau unterhalb des Ich-Gedankens, der Definition von dir selbst.

Tue das jeden Tag, viele Male am Tag. Tue es während einer Zeit des Meditierens und tue es auch, wenn du deinen Aktivitäten am Tag nachgehst. Schau, ob du dich einfach auf diese schlichte Praxis konzentrieren kannst, ganz egal, welche anderen Überlegungen dein Geist spirituell hat. Von dort kommt die ganze Kraft.

Quelle: Adyashanti „The Practice ‚I am'“, eigene Transkription und Übersetzung

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  1. Ingrid

    Vielen Dank lieber Ingo für die Übersetzung und die schöne Erinnerung 🙂

  2. Christine Rathmann

    Ich möchte mich ebenfalls für die Übersetzung bedanken! Dieser Text ist Anleitung und Motivation zugleich.
    Danke!

  3. sam

    Das erinnert mich sehr an das „ICH BIN“ im (ur)christlichen Verständnis. Dazu das Erleben des „Aussen“, des DU, ohne Urteil!
    So wie dies im Beitrag von Krishnamurti wiedergegeben ist.

    Für mich sehr lebensnah am wirklichen Leben.

    Nicht jeder kann sich ein Leben lang aufgrund von Geburt oder Umständen im „hintersinnen“ des „Mittleren Weges“ schulen lasssen.
    Manch EINER muss aufstehen, Brötchen backen oder die Auffahrt in den morgentlichen Stau nehmen … Nihilistisch? Dann meinetwegen …

    Danke für die tiefgründigen Beiträge und die super gut gemachte Webseite ohne Tracker .. 🙂

    • Ingo Zacharias

      Lieber Sam, danke für deinen Kommentar. Es freut mich, dass dir die Beiträge und die Webseite gefallen.

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