Die Vorstellung vom Entstehen in Abhängigkeit (paratantra) kommt der Lebenswirklichkeit sehr nahe. In ihr werden alle dualistischen Konzepte wie eins/viele, innen/außen, Zeit/Raum, Geist/Materie und andere verworfen, die der Geist benutzt, um die Wirklichkeit einzugrenzen, zu zerteilen und zu formen. Die Vorstellung vom Entstehen in Abhängigkeit kann nicht nur helfen, das gewohnheitsmäßige Zersplittern der Realität zu beenden, sondern sie kann uns auch zu einer direkten Wirklichkeitserfahrung befähigen. Dennoch sollten wir sie als Werkzeug und nicht als eigenständige Wirklichkeitsform betrachten.
Paratantra ist das eigentliche Wesen der lebendigen Wirklichkeit – das Fehlen eines zugrunde liegenden Selbsts. Auch ein Dreieck besteht nur deshalb, weil drei Linien in einem bestimmten Verhältnis aufeinander treffen – und so besteht auch kein anderes Ding aus sich selbst heraus. Da sie keine eigenständige Identität besitzen, sagt man von allen Erscheinungen, sie seien leer (sbunya). Damit sind die Erscheinungen aber keineswegs nicht vorhanden; sie sind lediglich leer von einem eigenständigen Selbst, einer bleibenden Wesenhaftigkeit, die unabhängig von anderen Erscheinungen wäre. […]
Lass uns einmal den Versuch unternehmen, uns von unserer Vorstellung von einem Selbst zu lösen und eine Sprache zu benutzen, bei der das Subjekt fehlt. Zum Beispiel sagen wir ja: »Es regnet«. »Es« ist das Subjekt, aber das sagt uns überhaupt nichts. Wir können sagen: »Der Regen fällt«. »Regen« ist das Subjekt, »fällt« das Prädikat, ein Verb. Aber auch dieser Satz macht keinen Sinn, denn wenn es regnet, muss Wasser herunterfallen, sonst ist es kein Regen. Also können wir sagen: »Regnen in London« oder »Regnen in Chicago«, ohne ein Subjekt zu verwenden, und damit ist die Wirklichkeit ausreichend beschrieben. […]
So könnte beispielsweise ein Zenmeister in einem einwöchigen Kurs über die Praxis des Nicht-Selbst vorschlagen, dass alle Teilnehmenden nur diese Art der Sprachregelung verwenden, ohne Subjekte. Ich bin sicher, dass diese Übung hervorragende Ergebnisse zeitigen würde.
Vergnügen wir uns doch einmal für einen Augenblick mit einer Art Tanz, um [das Wort] »Wissen« besser zu verstehen. Angenommen, ich sage: »Ich weiß, es ist windig«, dann bezieht sich »ich« mehr auf meinen Geist als auf meinen Körper. In Wirklichkeit bedeutet der Satz also: »Mein Geist weiß, es ist windig«. Der Geist ist der, der weiß, und so sagen wir eigentlich: »Der Wissende weiß, dass es windig ist«. »Der Wissende« ist das Subjekt, »weiß« ist das Prädikat, ein Verb. » . . . es ist windig« wäre hier das Objekt.
Aber es wäre komisch zu sagen: »Der Wissende weiß«, nicht wahr? Wir stellen uns ja unter dem Wissenden ein Wesen vor, das unabhängig vom Objekt existiert, das in unserem Hirn wohnt und ab und zu einmal kurze Ausflüge in die »Außenwelt« unternimmt, um zu sehen, was da draußen los ist. So wie wir einen Zollstock nehmen, um etwas abzumessen, so passen wir unseren Geist einem vorgefertigten Modell an, und zwar einem Modell, das unser Geist bereits selbst geschaffen hat.
So ist eben das, was wir »Geist« nennen, keineswegs der reine und wahre Geist. Er wurde bereits in Konzepte hineingepresst. Wenn wir sagen: »Ich weiß, dass der Wind weht«, dann glauben wir ja nicht, dass da irgend etwas ist, das etwas anderes wehen lässt. »Wind« gehört zu »wehen«. Gibt es kein Wehen, gibt es auch keinen Wind.
So ist es auch mit Wissen. Der Geist ist der Wissende; der, der weiß, ist der Geist. Wir sprechen jetzt über das Wissen in Bezug auf den Wind. »Wissen« bedeutet etwas wissen. Wissen ist vom Wind nicht zu trennen. Wind und Wissen sind eins. Wir können also » Wind « sagen, und das reicht bereits. Die Gegenwart des Windes beinhaltet die Gegenwart von Wissen, und die Gegenwart der Handlung ist wehen. Wenn wir den Satz »Ich weiß, dass der Wind weht« nun einfach verkürzen auf »Wind«, so können wir grammatische Fehler vermeiden und kommen der Wirklichkeit näher.
Im Alltag haben wir uns an eine Denk- und Ausdrucksweise gewöhnt, die unterstellt, alles sei von allem unabhängig. Diese Art zu denken und zu sprechen macht es schwierig, die nicht dualistische, nicht unterscheidende Wirklichkeit zu durchdringen, eine Wirklichkeit, die nicht in Konzepte gefasst werden kann.
Der Wind weht. Der Regen fällt. Der Fluss fließt. An diesen Sätzen können wir klar erkennen, dass das Subjekt und das Prädikat, ein Verb, zusammengehören, eins sind. Es gibt keinen Wind ohne »wehen«, keinen Regen ohne »fallen«, keinen Fluss ohne »fließen«. Schauen wir genau hin, erkennen wir, dass das Subjekt der Handlung in der Handlung selbst liegt, dass die Handlung selbst tatsächlich ihr eigenes Subjekt ist.
Das am meisten verbreitete Verb ist (das Hilfsverb) »sein«: Ich bin, du bist, der Berg ist, der Fluss ist. Das Hilfsverb »sein« drückt jedoch nicht den dynamischen, lebendigen Zustand des Universums aus. Um dem gerecht zu werden, müssten wir sagen »werden«. Diese beiden Verben können auch als Substantive (Hauptwörter) verwendet werden: »Sein« und »Werden«. Aber was sein/Sein? Was werden/Werden?
»Werden« bedeutet, »sich ständig entwickeln«. Es ist genauso universell wie »sein«. Es ist unmöglich, das »Sein« einer Erscheinung und ihr »Werden« auszudrücken, als seien beide voneinander unabhängig. Im Falle des Windes ist »wehen« das Sein und das Werden. Für den Regen bedeutet Sein und Werden »fallen«, und für den Fluss ist »fließen« Sein und Werden.
Wir sagen, dass »Regen fällt«, aber »fällt« ist nicht die genaue Bezeichnung dafür. Schnee, Blätter, ja selbst Strahlung fällt ebenfalls. Sagen wir »regnen«, so würde das den Vorgang genauer beschreiben, die Handlung, die das Subjekt »Regen« ausführt. Wir könnten sie auch beschreiben mit »der Regen regnet«, damit wäre »Regen/regnen« beides, Subjekt und Prädikat, ausgedrückt durch das Verb. Oder wir sagen einfach: »Regnen« oder sogar »Regen.«
Entsprechend können wir auch sagen: »Die Malerin malt«, »der Leser liest«, »der Meditierende meditiert.« Würden wir diesem Muster folgen, könnten wir sogar sagen: »Der König königt«, »der Berg bergt« und »die Wolke wölkt.«
Der Existenzgrund für einen König ist, dass er König ist, als König handelt. Daseinsgrund für den Berg ist es, Berg zu sein, sich als Berg zu verhalten. »König sein« und »als König handeln « bedeutet zu tun, was ein König so tut – über Menschen regieren, königliche Audienzen gewähren und tausend andere Dinge. Also können wir wie bei »der Regen regnet« einfach sagen: »Der König königt«.
Hier ist das erste Wort das Subjekt und das zweite, das Verb, ist das Prädikat, die Satzaussage. Dieses Verb ist nun kein universales Verb, sondern eins, das nur für Könige benutzt wird. So lässt sich jedes Subjekt (in Gestalt eines Hauptworts oder Substantivs, d. Übs.) mit einem Verb ausdrücken, (erhält also eine Handlungsaussage, d. Übs.). Das Verb beinhaltet das Sein des Subjekts. In unseren Ohren klingt »die Malerin malt« überzeugender als »der König königt«, aber tatsächlich gibt es keinen Unterschied zwischen beiden Formen. […]
Wenn wir erkannt haben, dass jede Handlung ihr eigenes Subjekt ist, können wir allmählich die ungeheuren Anwendungsmöglichkeiten des Wortes »Wissen« erfassen.
Quelle: Thich Nhat Hanh „Die Sonne mein Herz“, S. 120f und S. 73-78 (Ausgabe Theseus 1998)
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