Ingo Zacharias

Freiheit des Jetzt

Vom Gedanken-Ich zur Präsenz-Identität

Du hast so viel erlebt und nichts davon hat eine Spur in dir hinterlassen

„Was auch immer für Bilder erscheinen mögen, es sind nur Bilder auf der Leinwand des Bewusstseins. Sie werden dich nicht berühren. Sei wie die Leinwand, auf die Bilder projiziert werden. Wenn auf der Leinwand ein großes Feuer ist, wird die Leinwand dadurch nicht verbrannt. Wenn auf der Leinwand ein Wasserfall ist, wird sie daduch nicht nass.“ – Mooji

Schmerzen im Rücken. Diese Körperempfindung hast DU erlebt.
Freude über die Bewältigung einer schwierigen Aufgabe. Dieses Gefühl hast DU erlebt.
„Ich habe jetzt keine Lust. Ich bin kaputt.“ Diesen Gedanken hast DU erlebt.
LKW-Geräusche auf der Autobahn. Diese Sinneswahrnehmung hast DU erlebt.

Erinnerungen an deine Jugendzeit. Diese inneren Bilder hast DU erlebt.
„Wie kann der sich jetzt so verhalten?“ Diesen Gedanken hast DU erlebt.
Trauer über den Tod eines geliebten Menschen. Dieses Gefühl hast DU erlebt.

Die Schilderung der privaten Probleme einer Freundin. Diese Gedankengeschichte hast DU erlebt.
Joggen gehen. Dieses Körperempfindungen hast DU erlebt.
Die Schilderung deines letzten Urlaubs. Diese Gedankengeschichte hast DU erlebt.
Herbstlaub im Wald. Diese Sinneswahrnehmung hast DU erlebt.

Schau auf dein Leben. Mach dir bewusst, wie unendlich viel du schon erlebt hast – wieviele Sinneswahrnehmungen, wieviele Körperempfindungen, wieviele Gefühle und wieviele Gedanken. Sie alle blieben für eine kurze Zeit und verließen dich dann wieder. Manche tauchten öfter auf, aber auch sie wurden immer wieder abgelöst von einem neuen Erleben.

Hat dann irgendetwas von dem, was du erlebt hast, Spuren hinterlassen? Ist irgendetwas davon hängengeblieben? In dir, dem Erlebenden?

Hat irgendetwas von dem, was du erlebt hast, Wunden, Enttäuschung, Stolz oder Zufriedenheit hinterlassen? In dir, dem Erlebenden jedes Augenblicks?

Bleiben Spuren im Sand zurück?

Gibt es in diesem erlebenden Ich so etwas wie einen Lagerraum für persönliche Erfahrungen?

Wahrscheinlich tauchen jetzt Gedanken auf, die sagen: „Ja, natürlich habe ich vieles erlebt, das Spuren in mir hinterlassen hat – positive wie negative.“ Oder: „Gerade durch eine Psychotherapie ist mir klar geworden, dass mich bestimmte Erfahrungen sehr geprägt haben und diese noch heute immer wieder meine Wahrnehmung und mein Verhalten steuern.“

Ja, aus der gewöhnlichen Sicht, bei der wir uns als eine Person mit einer persönlichen Lebensgeschichte betrachten, stimmen diese Aussagen. Hier gibt es die Fähigkeit, sich zu erinnern, und es gibt bestimmte Denkmuster, Gefühle, Körperempfindungen und Verhaltensweisen, die immer wieder auftauchen.

Das erlebende Ich ist nicht die Stimme im Kopf

Aber das erlebende Ich, von dem ich hier spreche, hat nichts mit dem zu tun, was wir im Alltag unter Erleben verstehen. Ohne uns dessen bewusst zu sein, verwechseln wir das erlebende Ich mit dem benennenden, bewertenden und erzählenden Ich – mit dem, was ich das “Gedanken-Ich” nenne.

Dieses Stimme im Kopf ist aber nicht die erlebende Instanz. Sie selbst kann nichts erleben! Die Stimme im Kopf kann das Erleben in Worte und Begriffe fassen, sie kann eine Distanz zwischen sich und dem Erlebten herstellen („Ich bin hier und es ist dort“) und sie kann eine Bewertung abgeben (“Das empfinde ich als angenehm, positiv, schön” oder “Das ist für mich unangenehm, negativ, hässlich”).

Das Erleben selbst ist immer vor dieser inneren Stimme da. Es muss sogar davor da sein, denn es ist die Voraussetzung dafür, dass die Stimme im Kopf “ihren Senf dazugeben” kann.

Diese Stimme im Kopf ist der Ort, wo unsere stärkste Ich-Identität liegt. Sie ist zudem fast ständig aktiv im Wachzustand. Deshalb fällt uns die Ebene des ständigen Erlebens von allem ohne die Stimme im Kopf so gut wie nie auf!

Aber die erlebende Instanz nimmt alles ganz regungslos und neutral wahr. Sie nimmt die äußere Welt und die Empfindungen im Körper ganz natürlich, anstrengungslos und unvoreingenommen wahr.

Und sie nimmt sogar die Stimme im Kopf wahr! Ebenfalls ohne jede Anstrengung und ohne jede Beurteilung. Das erlebende Ich ist also nicht nur vor der inneren Stimme da, sondern auch parallel dazu.

Das Erleben ist wie ein weiter Raum, in dem alles auftauchen kann. Aber der Raum selbst verändert sich dadurch kein bisschen. Und wenn das Erlebte wieder verschwunden ist, bleiben keinerlei Spuren davon zurück.

Der Raum selbst bleibt völlig unbehelligt, völlig unberührt. Und er bleibt ganz offen für das, was als Nächstes erscheinen mag.

Mach dir das erlebende Ich bewusst

Schau genau hin und mach dir im gegenwärtigen Erleben immer wieder bewusst:

Da ist die Sinneswahrnehmung – “Und Ich erlebe sie”.
Da ist das Körpergefühl – “Und Ich erlebe es”.
Da ist der Gedanke – “Und Ich erlebe ihn”.

Sage dir immer wieder: “Und Ich bin hier – Ich erlebe das”.

“Ich erlebe die Sinneswahrnehmung, das Körpergefühl, den Gedanken. Sie alle kommen und gehen, aber Ich bleibe. Nicht davon hinterlässt eine Spur in Mir, dem erlebenden Ich. Ich bleibe immer stiller, immer freier Raum.”

Spüre hin am Ende des Tages: Was hältst du wirklich in den Händen? Was hast du heute dazugewonnen oder verloren? Was hat sich geändert aus dem Blickwinkel des erlebenden Ichs?

Gedanken tauchen auf, die eine Geschichte über den Tag und über das Erlebte erzählen wollen. Aber die Fragen richten sich nicht an das darüber erzählende Gedanken-Ich, sondern an dich, das unmittelbar erlebende Ich (das auch noch das Gedanken-Ich erlebt). Was hat sich für dich verändert?

„Nichts kann an mich andocken – an Mich, das erlebende Ich. Nichts kann sich in mir festsetzen – in Mir, dem erlebenden Ich.“

Nur dieses Ich unterliegt nicht der Veränderung, ist konstant gegenwärtig. Nur das kann Ich SEIN! Denn wäre Ich eines oder mehrere der Dinge, die als Körperempfindungen oder Gedanken erlebt werden, würde Ich kommen und gehen wie sie. Aber das sichere Empfinden ist: „Ich bleibe. Ich bin weiter hier.“.

Das erlebende Ich hat keine Stimme und keine Form. Es ist immer präsent und entzieht sich doch jeder Wahrnehmung. Es kann in keinster Weise erlebt werden, denn es ist das, was alles erlebt.

„Alles fließt, in Mir, durch Mich. Ich bleibe immer leer. Immer unberührt und unbewegt.“

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  1. Lili

    Danke von Herzen für diesen Text!

  2. Ingrid

    Auch von mir vielen Dank für deine Inspirationen – und ich freue mich auf weitere 🙂

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