Ingo Zacharias

Freiheit des Jetzt

Vom Gedanken-Ich zur Präsenz-Identität

Emotionsgedanken befreien: Die Praxis des absichtlichen Denkens

„Die Person und all ihr Suchen, ihr ganzes Leiden, all ihre Probleme, das alles ist nur ein dickes Bündel Gedanken, das in der immer gegenwärtigen Lebendigkeit erscheint.“                    – Jeff Foster

In den letzten beiden Blogbeiträgen ging es um die Erforschung des Gedanken-Ichs. Ajahn Sumedho beschreibt in „Vertraue in das Gewahrsein“, wie er durch absichtliches Denken erkannte, dass nicht die Persönlichkeit, sondern nur das Gewahrsein eine verlässliche Zuflucht ist. In „Entdecke das Sein jenseits des Gedanken-Ichs“ schildere ich einen eigenen Weg der Selbsterforschung, mit dem es mir nach vielen Jahren spiritueller Praxis gelang, die leidvolle Identifikation mit den Gedanken zu lösen.

Mit der Frage: „Was bleibt von mir, wenn dieser Gedanke endet?“ und dem darauf folgenden Erleben des einfachen (Gewahr)Seins jenseits des Gedanken-Ichs wurde deutlich, dass meine tiefste Identität tatsächlich etwas Größeres, Umfassenderes ist als die Gedanken, die „mich“ scheinbar definieren und deren Besitzer „Ich“ scheinbar bin.

In diesem Beitrag möchte ich ergänzend dazu eine selbst entwickelte Form des absichtlichen Denkens darstellen. Sie ist ein hilfreiches Mittel, um bei Gedanken, die von starken Emotionen begleitet werden, Abstand zu gewinnen und wieder das einfache Sein wahrzunehmen.

Während meiner spirituellen Selbsterforschung an der Ostsee vor einigen Jahren riefen manche innere Überzeugungen, Selbstappelle, Selbstvorwürfe oder Anklagen an andere Menschen in bestimmten Momenten besonders unangenehme Emotionen hervor. In einer Spirale aus Gedanken und Emotionen, die sich gegenseitig befeuerten, erzählten diese Stimmen hartnäckig, was sie für die Wahrheit und für wichtig halten. Und über allem stand die Überzeugung, dass all diese Gedanken über mein reales „Ich“ sprechen und es sich um „meine“ Gedanken handelt.

Da ich in diesen Momenten stark mit den Emotionsgedanken identifiziert war, bekam ich das nicht sofort mit. Wenn es mir bewusst wurde, bedeutete das aber noch nicht, dass sich wirklich etwas veränderte. Oft fingen die gleichen inneren Sätze wieder an, nur liefen sie jetzt im Halbautomatikmodus, sprich: irgendwie bekam ich sie als Beobachter mit, aber zugleich war ich noch in ihnen gefangen.

Wenn diese Sätze weiter so vor sich hin wirkten, holte ich sie aus diesem Halbdunkeln raus, indem ich sie innerlich absichtlich wiederholte und dabei die Intensität des vorhandenen Gefühls im Tonfall mit ausdrückte, ja teilweise sogar verstärkte.

„Das steht mir zu!“

Ein Beispiel: Während eines Urlaubs an der Ostsee ging ich an einem Nachmittag meditativ am Strand entlang, als es plötzlich zu regnen anfing. Und zwar richtig. Ich beeilte mich, um den ersten Unterstand bei einem Haus zu finden. Gerade noch schaffte ich es bis zu einer kleinen Hütte. Dann wurde der Regen noch stärker. Meine Frau wartete derweil schon ca. 400 Meter entfernt im Auto. Da sie wusste, wo ich war, konnte sie mich eigentlich mit dem Auto abholen – aber sie wollte nicht, da es für diese Straße ein Fahrverbot gab. Also stand ich da, so gerade halb geschützt an einer kleinen Hütte, und nicht wissend, wie lange ich hier jetzt bleiben durfte.

Der Gedanke „Das kann doch jetzt nicht wahr sein! Wieso holt sie mich denn nicht eben ab?“ schoss mir durch den Kopf und erzeugte Wut und Ärger. Weitere Gedanken wie „Wieso muss ich mich jetzt anpassen?“ oder „Das muss ich nicht mit mir machen lassen!“ folgten und verstärkten natürlich wieder die Emotionen. So rotierte der Geist und der Körper war in Wallung. Dann fiel mir wieder meine spirituelle Frage ein: „Wer bin ich? Was bleibt von mir, wenn dieser Gedanke endet?“

Ja, auch dieser Gedanke und die damit verbundenen Emotionen sind flüchtig. Früher oder später ist auch dieser Ärger verraucht und ich bin wieder jemand anderes. Also, was bleibt dann von diesem „Ich“, das ich doch als dauerhaft erlebe? Das mal diesen und mal jenen Gedanken hat und mal diese und mal jene Emotion? Also zumindest diese unbeständigen Gedanken und Gefühle kann „Ich“ als konstanter Erlebender nicht sein! (Mehr dazu im vorherigen Blogartikel.)

Wenn die Gedanken nicht so emotional aufgeladen waren, wurde mit der dann folgenden Frage „Was bleibt, wenn dieser Gedanke endet?“ augenblicklich das wortlose Sein erlebbar. Aber jetzt waren die Gedanken zu stark und weitere Sätze wie „Hier geht es um mich!“ oder „Das steht mir zu!“ poppten auf.

Also sagte ich diese Gedanken innerlich absichtlich vor mich hin. Ich steigerte sogar die Emotionalität mancher Sätze und sagte wiederholt: „NEIN! Mit MIR NICHT!!!“, „Sooooooo NICHT!!“,„NEEEEEIIIIIN!!!“

Wenn die Emotionsgedanken so richtig im Bewusstsein da sein durften, erreichten sie bald, wie eine Welle auf dem Meer, ihren Scheitelpunkt und nahmen dann in ihrer Intensität ab. Und dann stellte ich wieder die Frage: „Was bleibt (von mir), wenn dieser Gedanke endet?“

Und plötzlich war die Stille da. Da war nur noch das wortlose Sein dieses Augenblicks – und kein „Ich“ mehr, das sich aufregte oder lamentierte. Die Gedanken und Emotionen waren wie weggeblasen. Durch das absichtliche Denken und das zum Teil „bewusste Hineinsteigern“ hatte ich einen Prozess von Gedanken und Emotionen ins Licht des Bewusstseins geholt und zugleich abgekürzt, der ohnehin irgendwann verschwunden wäre. Einfach, weil alles unbeständig ist.

Kurze Zeit später tauchten die Gedanken zwar wieder auf, aber etwas abgeschwächt. Mehrfach ging ich dann wieder auf die gleiche Weise vor: ich dachte absichtlich die Gedanken, brachte die damit verbundenen Emotionen zum Ausdruck, verstärkte sie teilweise sogar in ihrer Intensität und stellte schließlich die Frage „Was bleibt…?“

Schließlich war jegliche Aufregung verpufft und als der Regen weniger wurde und ich zum Auto kam, war da kein Bedürfnis mehr, über meine doch so „berechtigte“ Aufregung oder mein „verletztes Ich“ zu reden. Alles war gut so, wie es war. Keine Spur von Groll oder Sich behaupten müssen war noch vorhanden.

Im Gegenteil, es kam viel mehr Leichtigkeit auf. Und paradoxerweise wurde genau dieses „freiere Ich“ klarer, offener und direkter, wenn es um das Vertreten persönlicher Anliegen innerhalb der Beziehung ging.

Bewusst da sein lassen statt verdrängen oder ausagieren

Mit der Praxis des absichtlichen Denkens findet eine ehrliche und bewusste Wahrnehmung statt, was an stark emotional gefärbten Überzeugungen im Augenblick da ist und was ansonsten meist unbewusst oder halbautomatisch abläuft. Das ist sehr wichtig, denn eine echte Loslösung von dem Gedanken-Ich erfordert im ersten Schritt, dass alle inneren Stimmen – also auch die kindlichen, unlogischen, wütenden, fordernden, klagenden, flehenden, traurigen und verzweifelten – ganz deutlich ins Bewusstsein treten und da sein dürfen. Sonst kommt es innerlich entweder zur Verdrängung oder zum Ausagieren dieser Stimmen. Und genau das erhält die leidvolle Identifikation mit dem Gedanken-Ich aufrecht.

Im zweiten Schritt können die Stimmen dann erkannt werden als das, was sie sind: flüchtige, nicht „mich“ definierende Gedanken und nicht „meine“ Gedanken. Dadurch verlieren die Überzeugungen dieser Stimmen an Kraft, bis sie schließlich gar keine Energie mehr haben.

„Dazu habe ich jetzt keine Lust!“

Ein anderes Beispiel: Einmal ging ich bei mir zuhause nach vielen Stunden am PC noch etwas spazieren. Als ich erst kurz draußen war, sagte eine Stimme in mir: „Ich habe kein Lust mehr zum spazieren gehen!“ Sofort war da ein starkes Gefühl von Unlust und Widerstand. Experimentierfreudig wiederholte ich auch hier innerlich absichtlich diesen Gedanken und drückte zugleich die negativen Gefühle aus: „Ich habe jetzt echt keine Lust!!!“, „Neee, überhaupt nicht!!“, „Booaah, ist das langweilig hier zu gehen!!“.

Dann fragte ich: „Und was bleibt, wenn dieser Gedanke endet?“ Augenblicklich wurde es still und alle Aufregung und negativen Gefühle waren verschwunden. Einfach weg. Ich ging weiter – und es gab kein Problem mehr. Da war nur noch gehen, einfach gehen. Da war einfach dieser stille Raum des Jetztseins mit seinen fließenden, von Gedanken unverstellten Wahrnehmungen.

Das Beispiel will natürlich nicht ausdrücken, dass man persönlichen Wünschen und Vorlieben nicht mehr folgen soll. Aber diese und ähnliche Situationen zeigten mir, dass der Glaube „Ich brauche das jetzt so. Nur dann fühle ich mich wohl.“ einfach nur ein Glaube ist, also ein Gedanke. Wir sind viel flexibler als wir meinen, wenn wir nicht einfach den Gedanken glauben, der gerade aufpoppt! Und oft genug haben wir keine Wahl als uns auf die momentane Situation einzulassen. Dann ist es gut zu wissen, dass ein möglicher innerer Widerstand nicht so ernst genommen werden muss. Nichts Persönliches, kein Beinbruch.

Anstrengend und befreiend

Immer wieder wird bei dieser Praxis sichtbar, wie stark die Identifikation mit den Gedanken ist. Wir können und wollen nicht loslassen, weil innerlich hinter den hörbaren Gedanken der Gedanke abläuft: „Das bin ich! Hier geht es um mich!“. Oder sogar: „Wenn ich dieser Gedanke nicht bin, existiere ich nicht mehr!!“

Absichtliches Denken ist zunächst anstrengend und ein „emotionaler Wellenritt“. Aber es unterstützt dich darin, aus den tiefsten Gedanken-Identifikationen auszusteigen. Und das ist gleichbedeutend mit dem Ende des Leidens. Erst lernst du dein personales Ich richtig kennen, und dann erkennst du, dass du all diese Gedanken letztlich nicht bist. Du bist der Raum, in dem alles geschieht – inklusive der ichbezogenen Gedanken und Emotionen.

Noch ein Hinweis: Achte bitte beim Anwenden dieser Praxis darauf, ob du wirklich einen Teil des Bewusstseins in der Beobachterposition halten kannst. Wenn du die Sätze wiederholst und dich noch mehr in sie hineinsteigerst, ohne dass du dabei bewusst bleibst, solltest du die Praxis sofort abbrechen. Dann brauchst du andere Mittel, die dir ganz unmittelbar helfen, dich erstmal zu beruhigen und wieder „zur Besinnung“ zu kommen. Alternativ ist es hilfreich, eine zweite Person in deiner Nähe zu haben, die dich in der Bewusstheit für das, was du gerade wiederholst und verstärkst, unterstützt.

Wenn dich die Praxis des absichtlichen Denkens anspricht, wünsche ich dir viele befreiende Momente dabei!

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  1. Nadine

    Hallo,
    danke für diesen interessanten Artikel, der gerade gut zu dem passt, was ich momentan versuche zu verstehen und zu praktizieren. Nach viel Übung gelingt es mir nun schon recht gut, meine Gedanken zuzulassen, sie zu beobachten, mich aber nicht mit ihnen zu identifizieren.
    In einem Punkt will mein Verstand jedoch nicht nachgeben: im Umgang mit anderen Menschen… ich habe selbstverständlich keinen Anspruch darauf, dass meine Mitmenschen sich so verhalten, wie ich es gerne hätte (siehe Ihr Beispiel mit dem Warten vor der kleinen Hütte, als Ihre Frau Sie eigentlich abholen hätte können). Den ANSPRUCH aufzugeben ist gut für mich, für die andere Person und für unsere Beziehung. Aber der WUNSCH danach (dass Ihre Frau Sie abholt) ist doch nicht verwerflich, oder? Wenn ich meinen Wunsch äußere, zeige ich doch auch, wer ich bin und ich glaube, das ist wichtig, um überhaupt in Beziehung treten zu können. Mein Gegenüber äußert dann seine Gründe/Wünsche/Bedürfnisse (ich wollte dich nicht abholen, weil ich nicht gegen das Fahrverbot verstoßen wollte) – und durch dieses Gespräch kommt man einander näher und lernt sich kennen. Ich finde, das sind schöne Möglichkeiten, sich zu begegnen, oder verstehe ich da etwas falsch?
    Ich würde mich über eine Antwort sehr freuen!

    Liebe Grüße,
    Nadine

    • Ingo Zacharias

      Liebe Nadine,
      für mich sind hier zwei Ebenen zu unterscheiden. Auf der normalen zwischenmenschlichen Ebene finde ich es auch sehr gut, Ansprüche und Wünsche zu unterscheiden und die eigenen Wünsche dann auszudrücken (sowie die des Gegenübers zu hören). Das bringt Menschen näher in Verbindung. Ein Ansatz, mit dem man das sehr gut lernen kann, ist die Gewaltfreie Kommunikation. Aber die hier beschriebene Praxis ist mehr als „mit den eigenen Emotionen besser umgehen“. Dazu kann sie benutzt werden, aber für mich ist sie zuallererst eine tiefe spirituelle Selbsterforschung mit der Frage „Wer bin ich?“. Wer bin ich als beständige Entität, wenn doch diese gerade so reale Emotion ganz persönlich genommen wird und sie, früher oder später, wieder verschwunden ist? Futsch, weg? Eckhart Tolle beschreibt das hier sehr gut (ab dem Abschnitt „Der innere Raum entsteht auch dann…“).
      Vielen Dank für deinen Kommentar.

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