Wir können die Wirklichkeit nicht sehen, weil das Festhalten im Weg ist. Das Festhalten färbt alles ein, was wir auch für wahr halten. Jetzt ist es aber nicht möglich, einfach zu sagen: „In Ordnung, ich höre mit dem Festhalten auf.“ Das können wir nicht. Der Vorgang des Auseinandernehmens des „Ich“, nicht mehr zu glauben, dass dies hier ein Ganzes ist, geht nur allmählich vor sich. Aber wenn Meditation überhaupt Nutzen und Erfolg hat, dann muss sich zuallererst zeigen, dass es einen Geist gibt und einen Körper gibt. Da ist keine geschlossene Einheit, die ständig in Übereinstimmung handelt. Es gibt den Geist, der denkt und den Körper handeln lässt.

Das ist der erste Schritt, um sich etwas deutlicher kennen zu lernen. Und dann können wir feststellen „Das ist ein Gefühl“ und „Ich gebe diesem Gefühl einen Namen“, was Erinnerung und Wahrnehmung bedeutet. „Das ist der Gedanke, den ich zu diesem Gefühl habe. Der Gedanke ist aufgekommen, weil die Geist-Bewusstheit mit dem aufsteigenden Gefühl in Berührung gekommen ist.“

Nehmt die vier Teile der khandas, die zum Geist gehören, auseinander. Wenn wir das tun, während es geschieht – nicht jetzt, wenn wir daran denken, sondern während es geschieht –, dann erhalten wir eine Ahnung davon, dass das nicht wirklich „ich“ bin, dass das Erscheinungen sind, die auftauchen, einen Augenblick verweilen, und dann vergehen. Wie lange bleibt die Geist-Bewusstheit bei einem Objekt? Und wie lange dauern Gedanken? Und haben wir sie wirklich eingeladen?

Das Festhalten, das Festgehaltene, sie lassen das Ego auftauchen. Wegen des Festhaltens erscheint die Vorstellung des „Ich“, und dann gibt es mich und all die Probleme, die „ich“ habe. Ohne „mich“, gäbe es da Probleme? Wenn da niemand in meinem Inneren sitzt – wie wir es glauben –, der da „Ich“ oder „Hans“ oder „Helga“ genannt wird, wer hat dann das Problem?

Die khandas haben keine Probleme. Die khandas sind nur Vorgänge. Sie sind Erscheinungen, das ist alles. Sie gehen einfach weiter und weiter und weiter. Aber weil ich sie ergreife und versuche, mich an ihnen festzuhalten, und sage: „Ich bin das, ich fühle das, ich will das“, dann tauchen Probleme auf.

Wenn wir wirklich vom Leiden loskommen wollen, voll und ganz, dann muss das Festhalten weg. Der spirituelle Weg ist niemals der Weg des Erlangens, er ist immer der des Loslassens. Je mehr wir loslassen, umso mehr leeren, offenen Raum gibt es für uns, um die Wirklichkeit zu sehen. Weil das, was wir loslassen, nicht mehr da ist, gibt es die Möglichkeit, sich einfach zu bewegen, ohne an den Ergebnissen der Bewegung zu hängen. Solange wir an den Ergebnissen unseres Handelns festhalten, solange wir an den Ergebnissen unseres Denkens festhalten, so lange sind wir gebunden, eingeengt.

Nun gibt es noch eine dritte Sache, die wir tun: wir haben den Wunsch, etwas oder jemand zu werden. Den Wunsch, ein hervorragender Meditationsmeister zu werden. Den Wunsch, ein Hochschulabsolvent zu werden. Den Wunsch, etwas zu werden, was wir nicht sind. Und dieses Werden hält uns vom Sein ab. Wenn wir vom Sein getrennt sind, können wir nicht auf das achten, was wirklich da ist.
Dieses ganze Werden ist natürlich in der Zukunft. Da alles, was in der Zukunft liegt, nur Spekulation ist, leben wir in einer Traumwelt. Die einzige Wirklichkeit, derer wir gewiss sein können, ist dieser gegenwärtige Augenblick. Und dieser gegenwärtige Augenblick, wie ihr sicher bemerken könnt, ist bereits vorbei – und dieser ist vorbei, und der nächste ist auch schon vorbei.

Ayya Khema

Ayya Khema

Seht zu, wie sie alle vorbeigehen! Das ist die Unbeständigkeit von allem. Jeder Augenblick geht vorbei, aber wir klammern uns daran, versuchen uns daran festzuhalten. Versuchen, daraus Wirklichkeit zu machen. Versuchen, daraus Sicherheit zu gewinnen. Versuchen, sie zu etwas zu machen, was sie nicht sind. Seht zu, wie sie alle vorbeigehen. Wir können es gar nicht so schnell sagen, wie es geschieht.

Es gibt nichts Sicheres. Nichts zum Festhalten, nichts Festes. Das ganze Universum fällt ständig auseinander und kommt wieder zusammen. Und das schließt den Geist und den Körper ein, die wir „Ich“ nennen. Ihr mögt das glauben oder nicht, es macht keinen Unterschied. Um es zu wissen, muss man es erfahren; wenn man es erfährt, ist es vollkommen klar. Was man erfährt, ist vollkommen klar. Keiner kann es ableugnen. Sie mögen es versuchen, aber ihre Einwände sind sinnlos, denn man hat es ja erfahren. Es ist, wie wenn man in die Mango beißt: dann kennt man ihren Geschmack. […]

Die Erkenntnis, dass das Universum ständig auseinander fällt und wieder zusammen kommt, ist eine meditative Erfahrung. Dazu braucht es Übung, Ausdauer und Geduld. Und wenn der Geist ungestört und unbewegt ist, tauchen Gelassenheit, Gleichmut und innerer Friede auf.

An diesem Punkt versteht der Geist die Vorstellung der Unbeständigkeit so tiefgehend, dass er sich selbst als völlig unbeständig erkennt. Und wenn man den eigenen Geist als völlig unbeständig erlebt, ergibt sich eine Verschiebung in der Art, wie man die Welt sieht. Ich vergleiche diese Verschiebung gerne mit einem Kaleidoskop, mit dem Kinder spielen. Eine leichte Berührung, und man erhält ein anderes Bild. Nur eine leichte Verschiebung und alles sieht völlig anders aus.

Nicht-Selbst wird erfahren durch den Aspekt der Unbeständigkeit, durch den Aspekt der Unzulänglichkeit, und durch den Aspekt der Leere. Leer von was? Der Ausdruck „Leere“ wird so häufig missverstanden, weil er als Begriff gesehen wird, und dann sagt man: „Was ist mit leer eigentlich gemeint?“ Alles ist doch da: Personen sind da, und ihre Eingeweide, Gedärme und Knochen sind da, ihr Blut ist da, alles ist voller Sachen – und der Geist ist auch nicht leer. Er enthält Vorstellungen, Gedanken, Gefühle. Und selbst wenn die nicht da sind, was ist mit Leere gemeint? Das einzige, was leer ist, ist die Leere von einer Wesenheit.

Es gibt keine spezifische Wesenheit in irgendetwas. Das ist Leere. Das ist das Nichts-Sein. Dieses Nichts-Sein wird auch in der Meditation erfahren. Es ist leer, ohne spezifische Person darinnen, ohne spezifische Essenz, ohne irgendetwas, was ihm Bestand verleiht, sogar ohne irgendetwas, was irgendwie wichtig wäre. Alles ist im Fluss. Das ist also die Leere. Und diese Leere ist in allem zu erkennen; auch in sich selbst zu erkennen. Und das wird anatta, Nicht-Selbst, genannt. Leer von Essenz. Da ist niemand drinnen. Das existiert alles nur in der Vorstellung.

Zuerst fühlt sich das sehr unsicher an. Diese Person, die mir bisher so wichtig war, diese Person, die das und jenes erreichen will, diese Person, die mir Sicherheit geben wird, die mein Garant für ein glückliches Lebe n sein wird – sobald ich diese Person gefunden habe –, diese Person gibt es gar nicht wirklich.

Was für eine Furcht einflößende, Unsicherheit erzeugende Vorstellung das ist! Was für ein Gefühl der Angst da aufsteigt! Aber tatsächlich ist es genau umgekehrt. Wenn man diesen Schrecken akzeptiert und aushält und ihn überwindet, gelangt man zu ganz und gar vollkommener Erleichterung und Befreiung. […]

Es gibt drei Tore zur Befreiung: das zeichenlose, das wunschlose und das leere. Wenn wir die Unbeständigkeit, anicca, völlig verstehen, wird es die zeichenlose Befreiung genannt. Wenn wir das Leiden, dukkha, völlig verstehen, ist es die wunschlose Befreiung. Wenn wir Nicht-Selbst, anatta, völlig verstehen, dann ist es die leere Befreiung. Das bedeutet, wir können durch jedes dieser drei Tore gehen. Und befreit zu sein bedeutet, nie wieder einen unglücklichen Augenblick erleben zu müssen. Es bedeutet auch noch etwas anderes: es bedeutet, dass wir kein kamma mehr erzeugen.

Eine völlig befreite Person handelt noch, denkt noch, spricht noch und sieht in jeder Hinsicht noch genauso aus wie jeder andere, aber diese Person hat die Vorstellung aufgegeben, dass ich denke, ich spreche, ich handele. Kamma wird nicht mehr erzeugt, weil da nur der Gedanke ist, nur die Rede, nur die Handlung. Es gibt das Erleben, aber keinen Erlebenden. […]

Die Buddhalehre basiert notwendigerweise auf dem Verständnis, dass alles ohne besondere Essenz ist. Es gibt Kontinuität, aber keine besondere Wesenheit darin. Und diese Kontinuität macht es für uns so schwierig, zu erkennen, dass tatsächlich niemand in diesem Körper ist, der die Bedingung dafür wäre, dass sich etwas ereignet. Die Dinge ereignen sich auch so. […]

Quelle: Ayya Khema „Meditation über Nicht-Selbst“, mit kleinen eigenen Übersetzungsänderungen aus dem Original „Meditating on No-Self“