Die menschliche Situation ist durch eine zwanghafte und besessene persönliche Beziehung zu Gedanken gekennzeichnet. Im besten Fall sind Gedanken eine symbolische Repräsentation der Realität; im schlimmsten Fall nehmen Gedanken den Platz der Realität ein. Unsere Gedanken beschreiben und interpretieren sowohl die äußere Welt als auch unser inneres Erleben. Sich ein Leben vorzustellen, das in irgendeiner anderen Form gelebt wird, ist für die meisten Menschen unvorstellbar. Gedanken sagen uns, wer wir sind, was wir glauben, was richtig ist und falsch, was wir fühlen sollten, was wahr ist und unwahr, und wie wir in dieses Ereignis genannt “Leben” hineingehören.
Wir erschaffen buchstäblich uns selbst und unser Leben aus Gedanken. Außerdem verbinden wir das Ende von Gedanken mit Schlaf, Unbewusstsein oder Tod. Es ist diese sehr persönliche Beziehung zu den Gedanken, die die Ursache für all die Angst, Unwissenheit und das Leiden ist, die die menschliche Situation kennzeichnet, und die die Manifestation von wahrer Liebe in diesem Leben zunichte macht.
Solange dein Erleben von dir selbst und dem Leben durch die mechanische, konditionierte und zwanghafte Bewegung von Gedanken bestimmt wird, bist du an eine sehr, sehr begrenzte Wahrnehmung von dem gebunden, was real ist. Aber stell dir eine Beziehung zu den Gedanken vor, die unpersönlich ist. Das würde bedeuten, dass du dich selbst nicht länger zwanghaft durch die Bewegung von Gedanken definieren oder interpretieren würdest. In diesem Fall wärst du nicht länger begrenzt durch die konditionierte Perspektive von Gedanken. Plötzlich würde sich deine gesamte Perspektive von den Gedanken wegbewegen, hin zu dem, was der Grund und die Quelle von allen Gedanken ist; zu einer Quelle, die zum ersten Mal so erlebt werden würde wie sie ist, weil sie nicht mehr zwanghaft von Gedanken interpretiert wird.
Warum das so wichtig ist? Weil wenn du fähig bist, diese Quelle wahrzunehmen, bist du tatsächlich in direktem Kontakt mit der Wahrheit deines eigenen Wesens. Aus diesem Kontakt reift die Möglichkeit, plötzlich zu dem, wer und was du wirklich bist, zu erwachen: das Selbst, reines Bewusstsein.
Das Selbst ist der Kontext, in dem die Gedanken entstehen. Manifestationen in der Welt der Zeit entstehen als eine Welle aus dem Ozean des ewigen Bewusstseins. Aber die menschliche Situation wird von einer sehr persönlichen und zwanghaften Beziehung zu den Gedanken bestimmt, was diese Realisation unmöglich macht – bis du in der Lage bist, entweder plötzlich oder schrittweise, von diesem zwanghaften Bedürfnis nach Wissen und Verstehen mit dem Verstand loszulassen.
Du musst dich mehr für den Kontext interessieren, in dem die Gedanken und alle Erfahrungen entstehen, als für die falsche Sicherheit der Gedanken selbst. Die meisten Menschen finden das sehr schwierig, weil sich diesem Kontext zuzuwenden buchstäblich bedeutet, in das Unbekannte zu treten, was der letzte Ort ist, an den die meisten Menschen gehen wollen. Warum? Weil Gedanken immer Sicherheit in sich selbst suchen, was das Bekannte ist.
Angst und Unischerheit warten immer auf denjenigen, der er wagt, die Tiefen des Unbekannten zu erforschen. Der wahre Sucher nach Befreiung muss ein kompromissloses Verlangen haben, die zeitlose Wahrheit zu entdecken; ein Verlangen, das jede Tendenz aufwiegt, zu zögern und sich anzuspannen im Angesicht der Angst. Nur wenn die Angst vor dem Unbekannten offen umarmt wird, beginnt sie sich zu transformieren in die positive Energie und Intensität, die notwendig ist, um aus der konditionierten Existenz zu erwachen.
Es ist nicht unüblich, einen flüchtigen Einblick in die Erleuchtung zu haben in der Gegenwart eines kraftvollen Lehrers und unter idealen Bedingungen. Aber allzu oft sind die meisten Suchenden nicht bereit, sich den überwältigenden Auswirkungen dieser Offenbarung hinzugeben. Die tiefgreifende Intimität und Ungeschütztheit, die wahrer Freiheit innewohnen, bedeuten die Zerstörung der Ego-Grenzen in einem solchen Ausmaß, dass alle Wesen und alle Dinge der Inhalt des eigenen Selbst werden. Für die meisten Suchenden ist das schlicht zu viel, weil die Grenzenlosigkeit des Selbst keinen Raum für irgendeine Getrenntheit vom Ganzen lässt. Es ist das vollständige Fehlen der Getrenntheit vom Ganzen, das die genaue Definition von Selbstlosigkeit und Liebe ist.
Das Ziel der spirituellen Praxis ist, Das in deinem eigenen gegenwärtigen Erleben zu entdecken, was die Gedankenbewegung niemals berührt. Das bedeutet weder, den denkenden Geist zu unterdrücken, noch zu versuchen, mit Hilfe von Gedanken zu verstehen. Auf was ich hinweise ist das Unbekannte: die schon immer gegenwärtige, stille Quelle, die den Gedanken nicht nur vorausgeht, sondern sie auch umschließt.
Du musst dich mehr für das Unbekannte interessieren als für das, was bekannt ist. Sonst bleibst du in der sehr engen und verzerrten Perspektive des konzeptionellen Denkens gefangen. Du musst so tief in das Unbekannte gehen, dass du nicht länger Gedanken als Bezugspunkt nimmst um dir zu sagen, wer und was du bist. Nur dann werden die Gedanken in der Lage sein, das zu reflektieren, was wahr ist anstatt sich fälschlicherweise als Wahrheit auszugeben.
Worüber ich spreche ist ein Zustand, in dem der Geist sich niemals fixiert; in dem er sich niemals verschließt und kein zwanghaftes Bedürfnis hat, durch Ideen, Konzepte und Glaubensvorstellungen verstehen zu wollen. Es ist ein Zustand, wo du den Geist, die Empfindungen oder Emotionen nicht länger als Bezugspunkt für Sicherheit in irgendeiner Form nimmst. Worüber ich spreche ist die vollständige Aufgabe jeglicher Getrenntheit, bis Befreiung ein dauerhafter Zustand ist und du für immer in der Freiheit des Absoluten verloren bist.
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Über dem Eingang des Orakels von Delphi stehen die Worte geschrieben: “Erkenne dich selbst”. Jesus fügte dieser alten Idee ein Gefühl von Dringlichkeit und Konsequenz hinzu als er sagte: “Wenn du hervorbringst, was in dir ist, wird dich das, was du hervorbringst, retten. Wenn du das, was in dir ist, nicht hervorbringst, wird dich das, was du nicht hervorbringst, zerstören.”
Was Jesus sagte ist, dass Spiritualität ein ernsthaftes Geschäft ist, mit ernsthaften Konsequenzen. Dein Leben hängt in einem prekären Gleichgewicht, hin und her pendelnd zwischen einem Zustand unbewussten Schlafwandelns und spiritueller Erleuchtung mit weit geöffneten Augen. Die Tatsache, dass die meisten Menschen das Leben nicht in dieser Art wahrnehmen, zeigt, wie tief sie in Wirklichkeit schlafen und dies leugnen.
In jeder unserer Formen liegt das existenzielle Geheimnis des Seins. Jenseits der eigenen physischen Erscheinung, der Persönlichkeit, des Geschlechts, der eigenen Geschichte, der Hoffnungen und Träume, des Kommens und Gehens, liegt ein unheimliches Schweigen, ein Abgrund von Stille, aufgeladen mit einer ätherischen Präsenz. Trotz all unserer sorgenvollen Beschäftigungen und Obsessionen mit trivialen Dingen, können wir diese geisterhafte Essenz in unserem Kern nicht vollständig leugnen. Und doch tuen wir alles was wir können, um ihre Stille zu vermeiden, ihr Schweigen, ihre vollkommene Leere und intime Umarmung.
Unbewusst zu bleiben vom Sein bedeutet, gefangen zu sein in einem Ego-getriebenen Ödland von Konflikten, Kämpfen und Angst, die nur normal zu sein scheinen, weil wir durch eine Gehirnwäsche in einem Zustand außer Kraft gesetzten Zweifels leben und so eine schockierende Menge an Hass, Unehrlichkeit, Ignoranz und Gier als normal und gesund ansehen. Aber das ist nicht gesund. Es ist noch nicht einmal nahe daran, gesund zu sein, noch hat es seine Grundlage in der Realität. Tatsächliche könnte nichts weniger real sein als das, was wir Menschen als Realität bezeichnen.
Indem wir an dem Geist anhaften in der Form von Erinnerungen und Gedanken, werden wir gefangen gehalten von der Bewegung unseres konditionierten Denkens und unserer Vorstellungen, während wir glauben, dass wir vollkommen rational und gesund sind. Deshalb fahren wir fort damit, die Realität zu rechtfertigen, die bei uns und anderen unvorstellbare Ausmaße von Schmerz und Leiden auslöst.
Tief im Innern vermuten wir alle, dass etwas ganz falsch ist an der Art und Weise, wie wir das Leben wahrnehmen, aber wir strengen uns sehr, sehr an, das nicht zu bemerken. Und durch ein besessenes und pathologisches Leugnen des Seins bleiben wir blind für unsere schreckliche Situation – so, als ob ein furchtbares Schicksal uns heimsuchen würde, wenn wir dem unverfälschten Licht der Wahrheit ins Gesicht sehen und unser ängstliches Anhaften an Illusionen offenlegen.
Die Frage des Seins ist alles. Nichts könnte wichtiger oder folgenschwerer sein – nichts, wo die Einsätze so hoch sind. Unbewusst zu bleiben vom Sein bedeutet, die Augen weiter zu verschließen vor unserer Realität und damit der Realität als Ganzem.
Die Wahl ist einfach: Erwache zum Sein oder schlafe einen endlosen Schlaf.
Quelle: Adyashanti „That Which Thought Never Touches“ & „The Question of Being“, eigene Übersetzung
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