Ingo Zacharias

Freiheit des Jetzt

Vom Gedanken-Ich zur Präsenz-Identität

Rupert Spira: Die nahtlose Intimität des Erlebens kennt kein „Ich“ oder „nicht Ich“

Es gibt keinen Abstand zwischen Körper, Geist und Welt und unserem Selbst, bewusster Präsenz, in dem sie erscheinen.

Das Geräusch des Windes oder das Bild des Mondes ist unserem Selbst, bewusster Präsenz, so nah und vertraut wie das Kribbeln unseres Gesichts, die Empfindung unseres Atems oder unser persönlichster Gedanke, unser persönlichstes Gefühl.

Kein Erleben des Körpers, des Geistes oder der Welt erscheint mit einer beigefügten „Ich“-Kennzeichnung. Der Gedanke „Das bin ich“ oder „Das bin ich nicht“ wird dem Erleben in Form von Empfinden und Wahrnehmen als nachträglicher Einfall hinzugefügt. Er ist dem Erleben selbst nicht innewohnend.

Nimm die Empfindung deiner Hände. Ohne sich auf das Denken zu beziehen, ist da irgendein Wissen, dass diese Empfindung „Ich“ ist? Erscheint sie mit einer beigefügten „Ich“-Kennzeichnung? Erscheint das Geräusch des Windes mit einer beigefügten „nicht Ich“-Kennzeichnung?

Sind sie nicht beide einfach reines Erleben, reines Empfinden und Wahrnehmen, noch nicht einmal „Hand“ oder „Wind“, ganz zu schweigen von „Ich“ oder „nicht Ich“?

Erst mit dem Gedanken „Ich bin dies, Ich bin nicht das“ wird die nahtlose Intimität des Erlebens scheinbar unterteilt in „Ich“ und „nicht Ich“, in „Ich“ und „Andere(s)“. Aber selbst dieser Gedanke ist so unpersönlich wie das Geräusch des Windes. Und das Geräusch des Windes ist so vertraut wie dieser Gedanke.

Sogar der Gedanke „Ich bin diese Empfindung, der Körper, aber nicht jene Wahrnehmung, der Wind“ ist nur ein Gedanke, der in keiner Beziehung zu unserem tatsächlichen Erleben steht. Er hat nicht wirklich die Kraft, die Nahtlosigkeit des Erlebens zu trennen. Er scheint es zu tun, aber dass heißt nicht, dass er es tatsächlich tut.

Es ist in der Tat unmöglich, die Nahtlosigkeit des Erlebens zu trennen. Der Gedanke, dass unser Selbst, diese bewusste Präsenz, die diese Worte sieht, sich in einem getrennten Körper befindet und auf ihn begrenzt ist, ist selbst einfach ein Gedanke, der in der grenzenlosen Präsenz erscheint, genauso wie das Geräusch des Windes.

Ist da wirklich ein Erleben von einer Grenze zwischen dem, was als innerhalb unseres Selbst angesehen wird und was wir als außerhalb ansehen?

Die Haut, die unser Selbst, Bewusstsein, zu beherbergen scheint, ist in Wirklichkeit einfach eine weitere Empfindung oder Wahrnehmung, die selbst im Bewusstsein erscheint, zusammen mit allen anderen Empfindungen und Wahrnehmungen.

Es ist nicht der Körper, der das Bewusstsein beinhaltet und es von der Welt trennt, sondern es ist vielmehr unser wahrer Körper, Bewusstsein, der den Körper, den Geist und die Welt beinhaltet.

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Sieh deutlich, dass der Atem in diesem weiten offenen Raum des Bewusstseins stattfindet, und nicht in einem vorgestellten, begrenzten Körper. Der Atem und der Körper sind beides Empfindungen. Eine Empfindung erscheint nicht in einer anderen Empfindung, sondern beide erscheinen im Bewusstsein, an dem gleichen Ort, an dem der Wind erscheint. Dieser „Ort“ ist der nicht lokalisierbare Ort des Bewusstseins.

Es ist nur ein Konzept das besagt, dass der Atem „Ich“ und „mein“ ist und innen stattfindet, und der Wind „nicht Ich“ und „nicht mein“ ist und außerhalb stattfindet.

Rupert Spira

Die Grenze zwischen dem „Ich“ und dem „nicht Ich“ wird vorgestellt mit dem Gedanken, der ihn denkt. Ohne dieses Konzept gibt es kein „Ich“, kein „nicht Ich“, kein Innen und kein Außen. Der begrenzte physische Körper ist einfach eine weitere Erscheinung innerhalb des Bewusstseins.

Gibt es irgendein Erleben von einem Zentrum oder einem Ort, von dem aus jedes Erleben gekannt wird? Wo wird das Geräusch des Windes gehört? Wo wird die Empfindung des Atems gefühlt? Von wo aus wird der Anblick des Mondes gesehen?

Und falls die Antwort „hier“ oder „dort“ ist, sieh deutlich, dass dieser sogenannte Ort in Wirklichkeit überhaupt kein Ort ist. Es ist einfach eine weitere Empfindung oder Wahrnehmung, die genau an dem gleichen „Ort“ erlebt wird wie das Geräusch des Windes, die Empfindung des Atems oder der Anblick des Mondes.

Das Geräusch des Windes, die Empfindung des Atems, der Anblick des Mondes und der scheinbare Ort, an dem sie vermeintlich stattfinden, finden in Wirklichkeit an keinem Ort statt. Das Geräusch, die Empfindung, die Wahrnehmung und der scheinbare Ort finden alle statt im nicht lokalisierbaren Ort des Bewusstseins.

Gibt es ein Erleben von einem Zentrum oder einem Ort, von dem aus oder in dem unsere Gedanken wahrgenommen werden?

Gibt es irgendein tatsächliches Erleben von einem „Ich“, von einer Wesenheit, die das Denken macht? Oder erscheint das Denken einfach im Bewusstsein wie das Geräusch des Windes, die Empfindung des Atems und der Anblick des Mondes?

Und falls dort eine „Ich“-Wesenheit gegenwärtig zu sein scheint, ein Zentrum des Erlebens, gibt es dort einen Ort, von dem aus dieses Erleben wahrgenommen wird? Oder erscheint dieses Erleben selbst nicht auch einfach im nicht lokalisierbaren Bewusstsein?

Sieh deutlich, dass Gedanken, Bilder, Gefühle, körperliche Empfindungen, Geräusche, Anblicke, Strukturen, Geschmack und Gerüche alle anstrengungslos im nicht lokalisierbaren Bewusstsein erscheinen.

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Um im Widerstand zu dem zu sein, was gegenwärtig ist, und zu suchen, was nicht gegenwärtig ist, müssen wir uns selbst erst als ein getrenntes, begrenztes Zentrum des Wahrnehmens vorstellen, das im und als der Körper da ist. Wir müssen zuerst eine Position einnehmen, von der aus wir Widerstand haben können. Allein mit diesem Gedanken wird das getrennte innere Selbst vorgestellt. Das scheinbar getrennte Selbst ist diese vorgestellte Position.

Aber schau, ob es in der Nahtlosigkeit des Erlebens eine trennende Linie gibt, die es in ein „Ich“ auf der einen Seite und in ein „nicht Ich“ auf der anderen Seite unterteilt.

Wenn wir glauben, eine solche Linie gefunden zu haben, ist diese scheinbar trennende Linie nicht selbst einfach ein weiterer Gedanke, eine weiteres Bild, eine weitere Empfindung oder Wahrnehmung, die im Bewusstsein erscheint? Mit anderen Worten: Es ist nicht wirklich eine trennende Linie, sondern nur ein Gedanke oder ein Bild davon.

Und wenn du nicht eine reale trennende Linie findest, die das Erleben in zwei Bereiche aufteilt, einen „Ich“-Bereich und einen „nicht Ich“-Bereich, dann bleibe bei der nahtlosen Intimität des gegenwärtigen Erlebens, und schau, ob es möglich ist, einen Punkt, ein Zentrum, einen einzelnen Ort zu finden, wo du, „Ich“, zu verorten bist, ein Ort, von dem aus die Gesamtheit des Erlebens gekannt oder wahrgenommen wird.

Erkenne, dass, wenn wir solch ein Zentrum oder einen Ort für unser Selbst, den Erlebenden, finden, dieses Zentrum selbst einfach ein nahtloser „Teil“ des gegenwärtigen Erlebens ist. In Wirklichkeit gibt es keine Teile im Erleben. Erleben ist reine nathlose Intimität.

Erkenne, dass solch ein Zentrum wie jeder andere Gedanke, jedes Bild, jede Empfindung oder Wahrnehmung in unserem eigenen vertrauten, unpersönlichen, grenzenlosen Bewusstsein erscheint.

Erkenne, dass das „Ich“ selbst ein Ausdruck der nahtlosen Gesamtheit ist, aber dass es keine unabhängige Realität für sich alleine hat. Es ist selbst die Form, die diese nahtlose Gesamtheit von Zeit zu Zeit annimmt, aber es unterteilt niemals wirklich etwas von etwas.

Schau, ob sich wirklich irgendetwas verändert, wenn wir aufstehen und umhergehen. In Wirklichkeit ist da kein Wesen, das aufsteht und umhergeht. Niemand ist in diesen Raum gekommen und niemand hat sich hingesetzt. Das ist nur eine Interpretation von Gedanken.

Bewusstsein ist die einzige Substanz, die gegenwärtig ist, und sie steht niemals auf oder geht umher. Da ist nur empfinden und wahrnehmen und sie sind ganz und gar, auf intimste Weise eins mit unserem Selbst, Bewusstsein.

Es ist nur das Denken, das Teile, Objekte, Wesenheiten, Ichs und Andere aus der intimen Nahtlosigkeit des Erlebens herausnimmt und ein Bild von einer Person konstruiert, die sich in Zeit und Raum bewegt, die geboren wurde, die alt wird und stirbt. Aber die Person, Raum, Zeit, Geburt und Tod sind nur für die Gedanken, nicht für das Erleben.

In der Wirklichkeit gibt es nur neue Empfindungen und Wahrnehmungen, die in und als nicht lokalisierbare Präsenz entstehen, obwohl selbst das nicht ganz wahr ist.

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Es ist nur ein Gedanke, der sagt, dass dieses Erleben neu ist. Erleben ist zutiefst und intim es selbst, als dass es in der Lage wäre, zurückzutreten und so etwas über sich selbst zu sagen. Nur ein Gedanke vergleicht die Gegenwart mit einer vorgestellten Vergangenheit und erschafft dadurch das Alte, und damit das Neue.

Jeder Gedanke, jedes Bild, jede Empfindung und Wahrnehmung ist frisch und jetzt. Die Kennzeichnungen „alt“ und „Vergangenheit“ sind Gedanken, die jetzt erscheinen. Und weil es kein „alt“ und keine „Vergangenheit“ gibt, gibt es kein „neu“, keinen gegenwärtigen Moment und keine Zukunft.

Das Erleben selbst weiß nichts von einer Vergangenheit oder Zukunft, von dem Alten oder dem Neuen. Es kennt nur die zeitlose Intimität des Jetzt.

Nur ein vorgestelltes Objekt kann alt oder neu sein. Das Erleben selbst ist immer frisch, intim, vibrierend und lebendig. Es ist immer hier und jetzt, nicht „jetzt“ in der Zeit oder „hier“ im Raum, sondern vielmehr allgegenwärtig und dimensionslos.

Das Erleben kann nicht von sich selbst zurücktreten als ein getrenntes Subjekt, um sich selbst als ein getrenntes Objekt zu erkennen. Objekte sind nur für das Denken, nicht für unser Selbst.

Selbst von Empfindungen zu sprechen ist zuviel gesagt. Das ist nur ein Sprungbrett in der Dekonstruktion unseres Erlebens. In der Wirklichkeit sind Empfindungen und Wahrnehmungen nur Empfindungen und Wahrnehmungen vom Standpunkt des Denkens. Tatsächlich sind Gedanken nur Gedanken vom Standpunkt des Denkens. Das Erleben, also unser Selbst, kennt solche Dinge nicht.

Unser Selbst ist zu intim, nahtlos, eins mit allem Erleben, um sich selbst als „etwas“ wie ein Geist, ein Körper, ein Anderes oder eine Welt zu sehen. Es kennt nur die Intimität mit sich selbst.

Diese Abwesenheit von Andersartigkeit, Objekthaftigkeit, Selbsthaftigkeit ist Liebe selbst. Es ist, was wir sind, und alles, was wir kennen.

All dieses Denken stirbt wahrhaftig, wenn wir in das Herz des Erleben gehen. Das Denken kann tatsächlich nicht in das Herz des Erlebens gehen. Es kann in eine vorgestellte Vergangenheit und Zukunft gehen, aber es kann niemals die Gegenwart berühren. Es ist immer zu spät.

Die getrennte Wesenheit, die wir annehmen zu sein, kann sich nicht in der Gegenwart aufhalten. Sie kann sich nur ein Zuhause in der vorgestellten Vergangenheit oder Zukunft schaffen. Sie kann sich nur in Zeit und Raum aufhalten, aber niemals in der ewigen und unendlichen Präsenz des Hier und Jetzt. Sie stirbt einfach, wenn sie versucht, dorthin zu gehen, und dieser Tod ist Liebe.

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Die Tatsache, dass das Erleben friedvoll oder aufgeregt, angenehm oder unangenehm sein kann, ändert nichts. Die spezifischen Eigenschaften des Erlebens stellen nicht die Nahtlosigkeit des Erlebens in Frage. Sie machen es nicht schwieriger zu sehen, dass es weder eine Trennlinie noch ein wahrnehmendes Zentrum in unserem Erleben gibt. Ihr spezifischer Charakter berührt in keinster Weise die Tatsache, dass unser Erleben immer eine nahtlose, intime Gesamtheit ohne getrennte Teile, Objekte, Wesenheiten, Ichs oder Andere ist.

In der Tat sind „friedvoll“ oder „aufgebracht“, „angenehm“ oder „unangenehm“ wiederum nur Interpretationen, die dem Erleben vom Geist übergestülpt werden. Das Erleben selbst ist, wie es ist, weder friedvoll noch aufgebracht. Und um das Erleben in dieser Weise zu interpretieren, muss das Denken zuerst eine getrennte Wesenheit aus der Nahtlosigkeit des Erlebens herausnehmen und sich als Folge davon einen begrenzten, auffindbaren Standpunkt vorstellen, von dem aus das Erleben als solches bewertet und beurteilt wird.

Das Erleben kennt kein Aufgebrachtsein. Nur der Geist kennt Aufgebrachtsein und das Aufgebrachtsein, das er kennt, gehört nur zu seiner eigenen Aktivität.

Sieh deutlich, dass das Erleben wie ein nahtloses Stück Kleidung ist, ohne getrennte Teile, Wesenheiten, Orte, Zeiten, Objekte oder Ichs, die irgendwo gefunden werden könnten. Da ist nur unser Selbst, Bewusstsein, das scheinbar die Form von diesem und diesem und diesem annimmt… und das manchmal gar keine Form annimmt… farblos, still, leuchtend, sich selbst kennend, es selbst seiend und sich selbst liebend.

Quelle: Rupert Spira „Presence, Volume II: The Intimacy of All Experience“, Kapitel „The Imaginary Centre of Perception“, eigene Übersetzung

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  1. Yasemin

    Hier nur nochmal ein herzliches Dankeschön für Deine Übersetzung
    des interessanten Textes.

  2. Ingrid

    Wieder eine schöne Erinnerung daran, dass alles EINS ist – auch von mir vielen Dank für deine Übersetzung :-)!

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