Ingo Zacharias

Freiheit des Jetzt

Vom Gedanken-Ich zur Präsenz-Identität

Das erlebende Ich ist die Freiheit, nach der das Gedanken-Ich so angestrengt sucht

„Raum kann ohne Wind sein. Aber der Wind kann nicht ohne Raum sein. Dein wahres Selbst ist wie der Raum. Es ist unendlich. Du kannst ohne den psychologischen Geist sein. Aber er kann nicht ohne dich sein. Du musst beurteilen, wer der Größere ist. Und als der Größere dableiben.“ – Mooji

Unser Leben unterliegt einer zentralen und leidvollen Täuschung. Wir glauben, dass das erlebende Ich identisch mit dem Gedanken-Ich ist. Ganz selbstverständlich sagen wir: „ICH höre das Rauschen der Blätter im Wind“, „ICH sehe die Wolken“, „ICH esse den Kuchen“, „ICH spüre, wie verspannt ich bin“, „ICH fühle mich gerade verletzt“ oder „ICH denke darüber nach, wohin ich im Sommer am liebsten in Urlaub fahren möchte“.

Aber all diese Aussagen sind zunächst einmal nur Gedanken! Gedanken, die das Wort „Ich“ enthalten. Dabei ist die Stimme im Kopf, die „Ich“ sagt, sicher nicht das, was das Hören, Sehen, Fühlen oder Denken macht und die gehörten, gesehen, gefühlten oder gedachten Objekte erlebt. Auf was verweist dann das Wort „Ich“? Wo ist dieses Erlebenszentrum zu finden?

Für uns sind die Sätze Ausdruck einer grundlegenden Realität: „Hier ist ein gleichbleibendes Ich als Erlebender (oder Handelnder), das sich durch die Zeit bewegt und wechselnde Dinge im Außen oder Innen erlebt (oder tut).“ Diese Überzeugung wirkt vor allem deshalb so täuschend echt, weil das Gedanken-Ich fast ständig aktiv ist. Entweder es denkt über sich und die Welt nach oder es kommentiert das, was gerade wahrgenommen wurde. Dabei wird das Erlebte in Begriffe gefasst und eine subjektive Geschichte über das Erlebte erzählt, die fast immer eine Bewertung enthält, ob es gut/schön/angenehm war oder das Gegenteil davon.

Dadurch entsteht der Eindruck, dass „Ich“ eine reale Entität bin. Es wirkt so, als gäbe es hier einen festen, dauerhaften und greifbaren Bezugspunkt, auf den alles, was erlebt wird, einwirkt oder von dem alle Handlungen ausgehen. So nehmen wir alles – im wahrsten Sinne des Wortes – persönlich und leiden dann entweder an dem Erlebten oder fühlen uns durch das Erlebte glücklich und zufrieden.

Das erlebende Ich ist nicht das Gedanken-Ich

Zwei Betrachtungen machen jedoch deutlich, dass dieser Eindruck falsch ist. Zum einen braucht es, um etwas zu benennen oder zu bewerten, zunächst einen bewertungsfreien Moment des Erlebens, also ein reines Erleben. Dieses reine Bewusstsein oder Gewahrsein ist völlig frei von der Stimme im Kopf. Hören, sehen, schmecken, fühlen, ja selbst denken finden einfach statt – ohne einen mentalen Zusatz „Ich (tue/erlebe das)“. Erst danach taucht diese Stimme auf, stellt durch Kommentieren und Einordnen eine Beziehung her zu dem Erlebten und behauptet dann auch noch, sie sei von Anfang als erlebende Instanz da gewesen.

Zum anderen wird selbst das Gedanken-Ich vom erlebenden Ich wahrgenommen. Da ist also ein „Ich“, das die Stimme im Kopf „hört“. Ohne dass du so recht darauf achtest, bekommst du mit, was du sagst oder denkst. Du bist dir ohne jede Anstrengung deiner Gedanken oder Worte bewusst. Und zwar immer! Wie könntest du sonst jemals etwas über frühere Gedanken erzählen, wenn du sie nicht vorher mitgekriegt hättest?

Es gibt also ein erlebendes Ich, das größer und umfassender als das Gedanken-Ich ist, das unabhängig vom Gedanken-Ich da ist, und das sogar da ist, während das Gedanken-Ich aktiv ist. Das erlebende Ich kann folglich nicht identisch mit dem Gedanken-Ich sein!

Ein Wechsel der Identität

Wer oder was ist das erlebende Ich dann? Schließlich ist da ja ohne Frage ein Erleben. Alles, was erlebt wird, kann in Frage gestellt werden, aber dass es ein Erleben gibt, kann nicht bezweifelt werden. Selbst der Satz „Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich ein Erleben gibt“ wird einfach erlebt.

Die Frage nach dem erlebenden Ich ist keine philosophische Spielerei, sondern von existenzieller Bedeutung. Warum? Weil die vertraute Stimme im Kopf, die im Wachzustand fast ständig aktiv ist, mir scheinbar sagt, wer ich bin: „Ich bin dieser Körper und dieser Geist, heiße Maria/Felix/Lena und habe diese Lebensgeschichte“. Sie sagt mir, was ich brauche, um glücklich und zufrieden zu sein. Und sie sagt mir, wie die Welt außerhalb von mir ist und wie ich den Kontakt mit dieser Welt erlebe (angenehm, neutral, unangenehm). Kurzum, das Gedanken-Ich bildet den Ausganspunkt und das Zentrum für mein Identitätsgefühl. Und wenn es da nun ein Ich gibt, das jenseits des Gedanken-Ichs existiert, stellt dies unser gesamtes Identitätsgefühl in Frage!

Das ist auch der Grund, warum es für die meisten Menschen auf dem spirituellen Weg – trotz echter Erfahrungen von Achtsamkeit, Stille und einfachem Sein – so schwer ist, dauerhafte Freiheit zu finden. Es reicht der eine Gedanke „ICH habe diese Erlebnissse gehabt“, und schon sind wir wieder dem Gedanken-Ich auf den Leim gegangen und haben „vergessen“, dass während dieser Erfahrungen das entscheidende Merkmal nicht ein besonderes Erleben war (das jetzt wieder weg ist), sondern die Abwesenheit der gewohnten Ich-Identität.

Deshalb kommen spirituell Suchende früher oder später an den Punkt, an dem sie entscheiden müssen, ob sie weiter nach flüchtigen Erleuchtungserfahrungen suchen oder sich der Frage „Wer bin Ich wirklich?“ stellen wollen. Wenn sie diese Selbst-Erforschung machen, werden sie entdecken, dass nur das erlebende Ich wirklich den Namen „Ich“ verdient. Nur das erlebende Ich ist gleichbleibend – im Gegensatz zum Gedanken-Ich, das nicht nur in sich sehr wechselhaft ist, sondern vor allem nicht immer da ist. Und wenn es da ist, findet es sogar im erlebenden Ich statt.

Eigenschaften des erlebenden Ichs

Wie kann das erlebende Ich genauer umschrieben werden? Welche Eigenschaften zeichnen es aus? Hier einige Annäherungen:

Es ist nicht sichtbar, hat keine Form. Es ist kein Objekt des Erlebens, sondern das Subjekt, hinter das nichts und niemand zurück kann. Es ist der Urgrund des Seins.

Es ist leerer, grenzenloser Raum – aber in diesem Raum kann alles erscheinen: von Gedanken, inneren Bildern und Gefühlen über Körperempfindungen bis hin zu Sinneswahrnehmungen von der Welt. Dieses leere, offene Gefäß zu sein ist Freiheit.

Es kann niemals in Konflikt sein mit etwas oder jemand, weil nichts außerhalb von ihm geschieht. Es kennt kein Getrenntsein von dem, was im Augenblick da ist. Dieser Zustand ist wahre Liebe.

Es ist Stille. Es kennt keine Worte, Geschichten, Bewertungen oder begriffliche Einordnungen – aber Worte, Geschichten und Bewertungen können in ihm erscheinen. Diese Stille ist unerschütterlicher Frieden.

Es ist immer ganz, immer unversehrt – auch wenn das Gedanken-Ich das Gegenteil über „sich selbst“ behauptet.

Es bewegt sich nicht durch die Zeit. Es kennt keine Entwicklung, kein Gewinnen oder Verlieren, kein Entstehen oder Vergehen.

Es kann nichts persönlich nehmen. Es kennt keine Gefühle von Verletztsein, Angst, Resignation oder „Das brauche ich“ – aber diese Gefühle können in ihm auftauchen.

Es ist immer hier. Es ist anstrengungslos präsent und immer angekommen.

Mach deine Selbst-Erfahrung

Denke nicht groß über das Gelesene nach, sondern überprüfe es anhand deiner eigenen Erfahrungen. Schau hin. Direkt, im Moment des Erlebens. Nur diese Art von Selbst-Erkenntnis trägt wirklich. Alles andere sind nur flüchtige Überzeugungen.

Nimm zunächst den Unterschied zwischen dem erlebenden Ich und dem Gedanken-Ich wahr, z. B. beim Erleben der Natur. Nimm dann wahr, dass sich die Objekte des Erlebens ständig verändern – auch die „Ich“-Gedanken und die damit verbundenen Gefühle. Frage dich: „All das wird erlebt, aber was genau ist das erlebende Ich? Kommt und geht es wie die Objekte des Erlebens? Welche Eigenschaften hat es? Ist das, was ICH in meiner Essenz BIN?“

Flüstere immer wieder sanft in das erlebte Gedanken-Ich hinein: „Ich bin hier. Ich bin immer noch hier.“ Spüre, was du jenseits der Gedanken über dich bist. Werde dir des einzigen Ich-Zustands bewusst, den du nie verlassen hast und den du nie verlassen kannst.

Und erkenne, dass die Freiheit, nach der das Gedanken-Ich so angestrengt sucht, in dir, im erlebenden Ich, immer hier und jetzt präsent ist.

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  1. Jac

    Das ist wunderbar beschrieben und erklärt. Vielen Dank !

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