Ingo Zacharias

Freiheit des Jetzt

Vom Gedanken-Ich zur Präsenz-Identität

Dalai Lama: Die Leerheit verstehen

Die Hauptursache des Leidens ist Unwissenheit, die irrtümliche Annahme, dass Lebewesen und Objekte inhärent existieren. Wir alle haben eine berechtigte, richtige und angemessene Empfindung von unserem „Selbst“ oder „Ich“. Aber dann haben wir auch eine falsche Auffassung von diesem „Ich“ als inhärent existent. Unter dem Bann dieser Täuschung betrachten wir das Selbst, als würde es aus eigener Kraft existieren, durch seine eigene Natur ins Leben gerufen, in der Lage, sich selbst zu verursachen. […]

Falls es jedoch ein solches getrenntes Ich gäbe – selbst ins Leben gerufen und aus sich selbst heraus existierend –, dann müsste es klarer und deutlicher zu Tage treten unter dem Licht kompetenter Untersuchung darüber, ob dieses Selbst entweder als Geist oder als Körper existiert oder als die Ansammlung von Körper und Geist oder verschieden vom Körper und Geist. Tatsächlich ist es aber so, dass Sie das Selbst umso weniger finden, je näher Sie hinschauen. Es stellt sich heraus, dass dies für alles, für jedes Phänomen gilt. Die Tatsache, dass Sie sie nicht finden können, bedeutet, dass diese Phänomene nicht aus eigener Kraft heraus existieren; sie sind nicht selbst-begründet.

Irgendwann einmal während der frühen Sechziger, als ich über eine Textpassage von Tsongkhapa nachdachte über die Unauffindbarkeit von Phänomenen und die Tatsache, dass Phänomene von begrifflichem Denken abhängen, war es, als ob ein Blitz durch meine Brust jagte. Hier ist diese Passage:

„Das gesprenkelte Farbmuster und die Zusammenrollung eines aufgewickelten Seils sind denen einer Schlange ähnlich, und wenn das Seil im Halbdunkel wahrgenommen wird, entsteht der Gedanke: „Das ist eine Schlange.“ Was das Seil betrifft in dem Moment, wo es als Schlange gesehen wird, so sind die Ansammlung und die Teile des Seils nicht im Geringsten eine Schlange. Daher ist diese Schlange lediglich durch begriffliches Denken verursacht und etabliert.

Genauso ist es, wenn der Gedanke „Ich“ in Abhängigkeit von Geist und Körper entsteht: Nichts innerhalb des Geistes und des Körpers – weder die Ansammlung, die eine ununterbrochene Folge von früheren und späteren Momenten ist, noch die Ansammlung der Teile zu einer bestimmten Zeit, noch die einzelnen Teile, noch die ununterbrochene Folge von irgendwelchen der getrennten Teile – ist, auch nicht im Geringsten, das „Ich“.

Ebenso gibt es nicht im Geringsten etwas, das ein von Geist und Körper unterschiedenes Wesen ist und als das „Ich“ begriffen werden kann. Folglich ist das „Ich“ nur durch das begriffliche Denken, in Abhängigkeit von Geist und Körper, verursacht und etabliert; es wird nicht durch sein eigenes Wesen verursacht und etabliert.“

Dalai Lama

Dalai Lama

Die heftige Wirkung dauerte eine Zeit lang, und wann immer ich während der folgenden Wochen Menschen sah, kamen sie mir wie die Täuschungen eines Zauberkünstlers vor, weil sie als inhärent existent erschienen, ich aber wusste, dass dies in Wirklichkeit nicht der Fall war. […]

Phänomene existieren, aber ohne unabhängiges Selbst

Für Buddhisten ist das Hauptthema der Übung in Weisheit die Leerheit – oder Selbst-losigkeit –, was die Abwesenheit eines unvergänglichen, unveränderlichen, ungeteilten ganzen und unabhängigen Selbst bedeutet, oder subtiler, die Abwesenheit von innewohnender Existenz sowohl in Lebewesen als auch anderen Phänomenen. […] Buddha sagte viele Male, dass alle Phänomene relativ sind, da sie in Abhängigkeit entstanden sind – ihre Existenz hängt von anderen Ursachen und Bedingungen ab, und ihre Existenz hängt auch von ihren eigenen Bestandteilen ab.

Ein Holztisch zum Beispiel existiert nicht unabhängig. Vielmehr hängt er von einer Vielzahl von Ursachen ab, wie zum Beispiel einem Baum; dem Schreiner, der ihn herstellt, und so weiter. Er hängt aber auch von seinen eigenen Bestandteilen ab. Falls ein Holztisch oder irgendein Phänomen wirklich unabhängig wäre – falls er aus sich selbst heraus bestünde -, dann müsste seine Existenz, die aus ihm selber kommt, immer klarer und deutlicher zu Tage treten, wenn man ihn untersuchte. Das ist aber nicht der Fall. […]

Da wir gesehen haben, dass Phänomene, wenn man sie durch Analyse zu finden versucht, nicht gefunden werden können, könnten Sie sich fragen, ob diese Phänomene überhaupt existieren. Wir wissen jedoch aus eigener Erfahrung, dass Menschen und Dinge Freude und Schmerz verursachen und dass sie helfen oder schaden können. Daher existieren Phänomene ohne Zweifel. Die Frage ist, wie sie existieren. Sie existieren nicht aus sich selbst heraus, sondern haben eine Existenz, die auf vielen Faktoren beruht, einschließlich des Bewusstseins, das diese begrifflich denkend interpretiert. […]

Wir alle haben ein Gefühl von „Ich“. Wir müssen aber erkennen, dass dieses „Ich“ nur bezeichnet wird in Abhängigkeit von Geist und Körper. Die Selbst-losigkeit, von der Buddhisten sprechen, bezieht sich auf die Abwesenheit eines Selbst, welches unvergänglich, nicht aus Teilen zusammengesetzt und unabhängig ist. Buddhisten schätzen jedoch die Existenz eines Selbst, das sich von Moment zu Moment verändert und das in Abhängigkeit vom Kontinuum von Geist und Körper bezeichnet wird. Nur wenn wir unsere Wahrnehmung von uns selbst und von anderen Phänomenen in die Bedeutung von etwas inhärent Existentem übertreiben, werden wir in zahlreiche Probleme verwickelt.

Als eine Übung dafür, zu erkennen, wie Objekte und Lebewesen fälschlicherweise erscheinen, versuchen Sie Folgendes:

  1. Beobachten Sie, wie ein Gegenstand, zum Beispiel eine Uhr, in einem Geschäft erscheint, wenn Sie zum ersten Mal Notiz von ihm nehmen; wie er sich dann verändert und gegenständlicher und greifbarer wird, sowie sich Ihr Interesse daran verstärkt; und wie er schließlich erscheint, nachdem Sie ihn gekauft haben und als Ihr Eigentum betrachten.
  2. Denken Sie darüber nach, wie Sie selbst Ihrem Geist erscheinen, als ob Sie aus sich selbst heraus existent wären. Denken Sie dann darüber nach, wie andere und deren Körper Ihrem Geist erscheinen. […]

Form ist Leerheit, Leerheit ist Form

Das Entstehen und Vergehen, die Zunahme und Abnahme und so weiter, von Formen ist nur möglich, da Formen leer von selbst-bewirkter Existenz sind. Es wird gesagt, dass Phänomene, wie zum Beispiel Formen, von innerhalb der Sphäre der Natur der Leerheit heraufdämmern und entstehen.

Konsequenterweise sagt das Herz-Sutra: „Form ist Leerheit; Leerheit ist Form. Form ist nichts anderes als Leerheit; Leerheit ist nichts anderes als Form.“ Auf diese Weise wird gezeigt, dass Leerheit und Entstehen in Abhängigkeit miteinander in Harmonie sind.

Kurz gesagt sind Formen nicht leer wegen der Leerheit, Formen an sich sind leer. Leerheit bedeutet nicht, dass ein Phänomen leer davon ist, irgendein anderes Objekt zu sein, sondern dass es selbst leer von seiner eigenen inhärenten Existenz ist. Dass eine Form Leerheit ist, bedeutet, dass die endgültige Natur einer Form ihr natürliches Fehlen von inhärenter Existenz ist; da Formen etwas in Abhängigkeit Entstandenes sind, sind sie leer von einem unabhängigen, selbst-bewirkten Wesen.

Dass Leerheit Form ist, bedeutet, dass dieses natürliche Fehlen von inhärenter Existenz – welches die Abwesenheit eines selbst-angetriebenen Prinzips ist – die Formen ermöglicht, die deren Spielart sind oder die aus ihr begründet sind in Abhängigkeit von Bedingungen. Da Formen die Grundlagen der Leerheit sind, ist Leerheit Form; Formen erscheinen wie die Reflexionen der Leerheit.

Nach meiner eigenen Erfahrung ist es einfacher zu verstehen, dass die Dinge, da sie in Abhängigkeit entstanden sind, leer von inhärenter Existenz sind, als zu verstehen, dass die Dinge, da sie leer sind, etwas in Abhängigkeit Entstandenes sein müssen. Obwohl ich intellektuell das Letztere sehr wohl weiß, ist die konkrete Erfahrung davon auf der Ebene des Gefühls schwieriger. Heutzutage reflektiere ich oft über eine Aussage im Kostbaren Kranz von Nagarjuna:

„Eine Person ist nicht Erde, nicht Wasser, nicht Feuer, nicht Wind, nicht Raum, nicht Bewusstsein, und nicht alle diese zusammen. Welche Person gibt es, anders als diese?“

Zuerst betrachtet Nagarjuna, ob die physischen Elemente des Körpers – Erde (harte Substanzen), Wasser (Flüssigkeiten), Feuer (Wärme), Wind (Luft) und Raum (die Leerräume wie zum Beispiel die Speiseröhre) – das Selbst sein könnten. Als Nächstes untersucht er das Bewusstsein. Dann betrachtet er, ob die Ansammlung von allen diesen das Selbst sein kann. Schließlich stellt er die rhetorische Frage, ob das Selbst etwas anderes als diese sein könnte. Auf keinem dieser Wege kann das Selbst gefunden werden.

Nagarjuna zieht dann nicht sofort die Schlussfolgerung, dass das Selbst nicht wirklich ist. Vielmehr sagt er unmittelbar nach diesem Vers, dass das Selbst nicht nicht-existent, sondern etwas in Abhängigkeit Entstandenes ist, das in Abhängigkeit von den sechs oben genannten Bestandteilen verursacht und gebildet wird. Dann zieht er, auf dieser Tatsache der Abhängigkeit gründend, die Schussfolgerung, dass das Selbst nicht wirklich ist:

„Eine Person ist nicht wirklich, da sie eine Zusammensetzung von sechs Bestandteilen [und in Abhängigkeit davon verursacht und gebildet] ist.“

„Nicht wirklich“ heißt hier nicht nur, dass das Selbst nicht gefunden werden kann, wenn man es aus den sechs Bestandteilen heraus, oder isoliert davon, sucht. Nagarjuna macht die Feststellung:

„Obwohl der Geist, der die Leerheit inhärenter Existenz erkennt, ein reines Nichtvorhandensein sieht, unterstützt genau dieser Geist ein Verständnis, dass das Selbst etwas in Abhängigkeit Entstandenes ist.“

Der Mittlere Weg

Ich finde, dass die Art und Weise, wie Nagarjuna dies präsentiert, große Kraft hat. Er vermeidet sowohl das Extrem der Annahme, dass das Selbst inhärent existiert als auch das Extrem der Annahme, dass das Selbst überhaupt nicht existiert. Genau wie die beiden Seiten einer Hand: Wenn man die eine Seite betrachtet und ihre tiefere Natur untersucht, gibt es da die Leerheit von inhärenter Existenz. Wenn man jedoch die andere Seite betrachtet, dann gibt es da die Erscheinung des Phänomens an sich. Sie sind eine Entität. Folglich: Form ist Leerheit, und Leerheit ist Form. Sie müssen verstehen können, dass die Bedeutung der Leerheit auch die Bedeutung des Entstehens in Abhängigkeit ist. Sie sind tief miteinander verbunden.

Indem Ihre Einsicht in die Leerheit klarer und deutlicher wird, werden Sie mehr und mehr erkennen, dass Objekte von Ursachen und Bedingungen und von ihren Bestandteilen abhängen und dass Objekte Freude und Leid bewirken, gerade weil sie nicht inhärent existieren. Wenn Sie dahin kommen, dass Ihnen alles sinnlos vorkommt, da es leer ist, dann verwechseln Sie Leerheit mit Nihilismus. Die Leerheit richtig zu verstehen, bedeutet zu erkennen, wie wir uns auf Ursache und Wirkung verlassen müssen. Das vollständige und natürliche Verständnis von Leerheit bedeutet ein tiefes und gründliches Verständnis der Einheit von Erscheinung und Leerheit.

Das Verstehen der Leerheit ist fantastisch, nicht wahr? […] Denken Sie oft darüber nach, wie Phänomene in Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen entstehen, und versuchen Sie zu erkennen, wie dieses Entstehen in Abhängigkeit der Art und Weise entgegengesetzt ist, wie Personen und Dinge erscheinen: als stabil existent, als aus sich selbst heraus existierend, als inhärent existierend.

Wenn Sie zum Nihilismus neigen, dann denken Sie mehr über das Entstehen in Abhängigkeit nach. Falls Sie durch die Konzentration auf Ursachen und Bedingungen dazu neigen, die inhärente Existenz von Phänomenen zu verstärken, dann legen Sie mehr Betonung darauf, wie das Entstehen in Abhängigkeit dieser so stabilen Erscheinung widerspricht. Sie werden wahrscheinlich von der einen Seite zur anderen gezogen werden. Den wirklichen Mittleren Weg zu finden, braucht Zeit.

Quelle: Dalai Lama „Der Weg zum Glück“, S. 100-109, 118-121

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  1. Schöner Artikel, der wirklich viel zu meinem Verständnis von Leerheit beigetragen hat. Und trotzdem ist es so schwer, die Leerheit zu erfühlen und sich klar zu machen, dass alles irgendwie „bloß Kopfsache“ ist.

    • Ingo Zacharias

      Ja, die Leerheit ganz unmittelbar – also nicht vom Verstand her, sondern „fühlend“ – zu begreifen ist nochmal ein anderer Schritt. Dazu eignen sich Selbsterforschungen des gegenwärtigen Erlebens. Wer ist es, der dieses Geräusch hört? Wer ist es, der jetzt diese Körperempfindung hat? Wer ist es, der diesen Gedanken denkt? Ist da ein eigenständiges, personales Ich oder ist da nur Leerheit, also die bloße Abwesenheit genau dieses bisher für wirklich auffindbar gehaltenen Ichs? Und: Wer hat diese Erkenntnis? Ich als Person oder erkennt sich die Leerheit selbst in diesem direkten Schauen? Schau z. B. hier: ca. ab Minute 27 Mooji – Recognise Your Freedom

      • Jutta Schneuing

        Warum kann es Panik auslösen,wen man begreift,dass da „nichts ist“ ? Ich kenne das auch,aber es wa nicht schön.Ich dachte,dass ich mich auflöse.

        • Ingo Zacharias

          Die Leerheit zu verstehen heißt zu sehen, dass alle Wesen und Dinge nicht so existieren, wie wir meinen, dass sie existieren, nämlich als unabhängige Entitäten. Für den denkenden Verstand bedeutet das aber, dass dann nichts existiert, inklusive von einem selbst. In der Welt des Verstandes gibt es nur „etwas existiert“ oder „nichts existiert“. Die Leerheit kann dann für das normale Ich-Gefühl sehr bedrohlich sein, weil es seine Vernichtung bedeutet. Aber im direkten Erleben der Leerheit jenseits des Verstandes ist da nicht „Nichts“, ist da nicht keinerlei Ich-Gefühl. Nur ist dieses „neue“ Ich-Gefühl ein ganz anderes als das gewöhnliche, persönliche Ich-Empfinden. Es erlebt sich nicht mehr als getrenntes Wesen, abgeschnitten von allen anderen Wesen und Dingen. Vielmehr erlebt es sich als eine Ganzheit, die durch nichts erschüttert werden kann und die keinerlei Angst kennt.

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